© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/99 27. August 1999


Ostpreußen: Eine Fahrradtour durch das Land der dunklen Wälder
Zwiebeltürme sind selten
Thomas Kohl

Meine Annäherung an Ostpreußen erfolgt per Eisenbahn. Übermüdet steige ich in Berlin in den Zug und verschlafe die schöne Juli-Nacht. Morgens tritt mir die russische Staatsmacht am Grenzübergang Mamonowo/Heiligenbeil in Form einer attraktiven jungen Frau in Uniform entgegen, flankiert von zwei schwerbewaffneten Assistenten. An den neuen, bunten Uniformen hat der russische Doppeladler den Sowjetstern abgelöst. Ein junger Rußlanddeutscher mit Goldzahn hilft uns, den kyrillischen Einreiseformularen gerecht zu werden.

Nun geht es in langsamem Tempo auf europäischer Normalspur durch wildwüchsige Landschaften. Bildes des genialen russischen Filmemachers Tarkowski melden sich zurück. In dieser scheinbar menschenleeren, sich selbst überlassenen Landschaft tauchen plötzlich aus dem Nichts Personen auf. Für die Kinder an den Gleisen ist der Zug eine Attraktion, ältere Frauen halten nur kurz beim Beerensammeln inne. Bei der Einfahrt in den preußisch-backsteinernen Südbahnhof von Königsberg werden alle unruhig: Die Atmosphäre ist dicht von Vor- und Wiedersehensfreude. Bald nach der Ankunft zerstreut sich die Gesellschaft der Reisenden. Wir haben mit dem Gepäck und dem Beladen unserer Fahrräder zu tun.

Auf dem weiten, leeren Bahnhofsvorplatz erwartet uns eine Kalinin-Statue und heischt mit großer Geste nach Aufmerksamkeit. Unbeeindruckt von diesem und anderen Ablenkungsmanövern sozialistischer Stadtplaner und dem Nachlaß sowjetischer "Werbefachleute" sind wir neugierig auf die sagenhafte Hauptstadt dieses schlafenden Landes. Schnell wird klar, daß die Automobilbegeisterung der Einheimischen, der Zustand der Straßen und das Fehlen von Katalysatoren dem Fahrradfahrer einiges abverlangen. Im Zentrum angekommen, taucht die Pregelinsel mit dem Dom hinter der alten Börse auf. Das Dach aus Kupfer ist schon fertig, ebenso sind Vorderfront und Turmuhr mit viel Eigeninitiative der Bürger restauriert worden. Am Kant-Denkmal neben dem Dom treffen wir auf eine Gruppe russischer Kadetten in Ausgehuniform, die dort für ihr Gruppenfoto posieren. Der Dom selbst beherbergt neben dem Stadtmuseum eine deutsch-evangelische und eine russisch-orthodoxe Kapelle. Das Hauptschiff ist immer noch eine lebendige, malerische Baustelle.

Gegenüber, auf dem Gelände des 1969 auf Breschnews Geheiß gesprengten Schlosses, erhebt sich heute als gigantische, unbewohnbare Bauruine das "Haus der Räte". Im Volksmund wird es nur "das Monstrum" genannt.

Erstaunliche Details der Stadtgeschichte erfährt man bei einer Führung durch die ehemaligen Bunkeranlagen der Festung Königsberg. Ein Stück hinter dem heutigen Zentralhotel "Kaliningrad", unter dem Park vor der Universität, befand sich 1944/45 der Befehlsstand der deutschen Verteidiger. An diesem Ort der Kapitulation werden Dioramen, Fotos, eine Original-Lederjacke sowie Schreibtisch und Telefon des General Lasch gezeigt. Außerdem wird ein kleines Runen-Einmaleins zum besseren Verständnis der Deutschen geboten.

Wieder an der Oberfläche der Stadt angelangt, kann man auf einem der vielen lebendigen Märkte leckeres Gebäck und den an heißen Tagen beliebten Kwaß aus gelben Kesselwagen probieren. Überraschenderweise enthält ein Hefezopf mitunter auch einmal Sauerkraut. Es lohnt sich, die einheimischen Produkte zu probieren und die alles überschwemmenden Westprodukte links liegen zu lassen. Die Wodkamarke "Wostotschno Pruddkaja", zu deutsch "Ostpreußen", Kostenpunkt zwei Mark, erfreut sich außerordentlicher Beliebtheit. Eine Szene bleibt mir unvergeßlich: Nach einigem Durcheinander mit der modernen Registrierkasse läßt die Verkäuferin diese zerknirscht stehen und greift wieder zur bewährten Holzmurmel-Rechenmaschine.

Die typisch russischen Matrjoschkas und Zwiebeltürme sind eher selten. Die Bewohner der Region fühlen sich nur bedingt Rußland zugehörig: Die Uhren werden zwar nach der Zeit des fernen Moskau gestellt, aber Riga und Berlin liegen näher. Die alte Stadtstruktur läßt sich noch an den teilweise gut erhaltenen Stadttoren erkennen. Diese ehemaligen Türen zur Welt finden sich an den unterschiedlichsten Stellen, so mitten in den Neubaugebieten oder auf einem Betriebsgelände.

Wir verlassen die Stadt in Richtung Norden. Oft trifft man auf Ehrendenkmale der Roten Armee mit Bezug auf die Schlacht um Königsberg, meistens Panzer auf Betonsockeln oder große Eisentafeln, die bestimmte Stellungen markieren sollen. Der Kampf gegen den Rost wird mit viel Farbe geführt. Wir radeln durch das traditionsreiche Ostseebad Cranz/Selenogradsk nach Osten zum Kurischen Haff. Es fällt auf, daß erstaunlich viele deutsche Automarken mit russischen Kennzeichen unterwegs sind. Die Nobelserien von Mercedes, BMW und Audi zählen zu den Favoriten. Abends in Kampenhofen/ Usakova angekommen, entdecken wir eine Allee mit angenagelten "Trophäen" – deutsche Nummernschilder.

Die Route führt nun südlich an Ölfeldern vorbei über Tapiau/Gvardejsk wieder zum Pegel. In dieser Vollmondnacht zelten wir in der herrlichen Flußlandschaft und feiern ein Schlachtfest bei einer deutschen Familie. Ein Schwein auf einem Spieß über dem Feuer zu braten, ist ein abenteuerliches Ritual. Tags darauf geht es nach einem Schluck euterwarmer Milch durch Wehlau/ Znamensk, früher Dreh- und Angelpunkt des Trakehner Pferdehandels. Durch eine melancholische Landschaftfährt man auf weiten, alten, einsamen Alleen durch das südliche Ostpreußen des russischen Teiles. Zahllose Störche bevölkern die Moor- und Waldlandschaft. In den verfallenen Dörfern, die heute Namen wie "Druschba" oder "Oktober" tragen, erkennt man oft noch den symmetrisch-preußischen Charakter der Höfe sowie Reste backsteingotischer Kirchen und Burgen. Gemäß Marxens Ausspruch von der Religion als "Opium fürs Volk" ließ und läßt man die Kirchengebäude verfallen, manche werden heute noch als Viehställe bzw. Lagerräume benutzt. Die zugehörigen Friedhöfe sind leergewühlt.

Als Fahrradfahrer sollte man möglichst vor Einbruch der Dunkelheit einen sicheren Platz zum Zelten erreicht haben, denn kein Autofahrer rechnet mit uns. Nachts werden in den Dörfern die Hunde von der Kette gelassen, was sowohl unseren Adrenalinspiegel als auch unsere Fahrgeschwindigkeit beträchtlich steigen ließ. Ansonsten werden die Fahrradfahrer aus Deutschland mit freundlicher Neugier und Offenheit bedacht. Unverhofft bekommt man die eine oder andere Kuriosität der Vergangenheit gezeigt.

Über Friedland/Prawdinsk und Kreuzburg/Slakoskoje erreichen wir die ehemalige vierspurige Reichsautobahn Königsberg-Berlin. Sie fungiert heute als Landstraße. Das nächste Ziel ist Balga/Weseloje am Frischen Haff. Die Burg Balga ist interessant als älteste Steinburg und Basislager des Deutschen Ordens. Heute ist sie eine Ruine. Im März 1945 war Balga der letzte deutsche Brückenkopf am östlichen Haffufer und damit Garant für die Evakuierung der ostpreußischen Flüchtlinge über den Ostseehafen Pillau. Am Sandstrand von Balga läßt sich heute noch aus Fundstücken das Drama rekonstruieren. Wir finden Deichseln, Wagenräder, Fahrzeugaufbauten, Geschoßhülsen und sogar eine Schädeldecke.

Das Visum ist abgelaufen. Nachdenklich schiebe ich mein Fahrrad durch die Grenzanlagen von Heiligenbeil in den polnisch besetzten Teil. Es geht weiter zu Kopernikus, zur Nehrung, zur Marienburg …


 
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