© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/99 03. September 1999


Pankraz,
Viagra und der Start der Berliner Republik

Einer dpa-Meldung entnimmt Pankraz, daß die australische Regierung beschlossen habe, Veteranen des Zweiten Weltkriegs Viagra-Pillen zu Vorzugspreisen zukommen zu lassen, mit anderen Worten: australische Kriegsteilnehmer können Viagra-Pillen gewissermaßen auf Krankenschein erwerben, müssen nur noch ein Bruchteil dafür bezahlen. Das Durchschnittsalter der angepeilten Klientel dürfte inzwischen reichliche achtzig Jahre betragen, mit notwendig steigender Tendenz. Hier wird also die Geilheit unentwegter Lustgreise subventioniert; der Referent, der sich das ausgedacht hat, scheint vom wilden Strindberg gebissen gewesen zu sein.

Dennoch paßt der Vorgang nahtlos in eine weitverbreitete Mentalität. Es fällt der momentanen Gegenwart außerordentlich schwer, von gewissen Vergangenheiten Abschied zu nehmen, in denen sie sich lange Zeit spiegeln und aus denen sie Vorteil ziehen konnte. Bloße, durch Literatur und Sage überlieferte Erinnerung genügt nicht mehr, vielmehr wollen alle "persönlich dabeigewesen" sein, und zwar auf der richtigen Seite, auch wenn das physisch gar nicht möglich ist. So muß denn Viagra her, der Gesund- und Potenzbrunnen aus der pharmazeutischen, staatlich subventionierten Pillendose. Sein Einsatz soll Sieg über Zeit und natürlichen Lebenstakt vorgaukeln.

Was heute Viagra ist, das war bei den Kommunisten zu Sowjetzeiten der Herzschrittmacher. Auch damals galt das Dabeigewesensein, die einstige persönliche Teilhabe an den "heroischen Kampfzeiten", vorab als Ausweis unendlicher Vitalität, der faktisch zu dauernder Machtausübung und üppigster persönlicher Vorteilnahme berechtigte. Die Politbüros und Zentralkomitees bestanden konsequenterweise bald nur noch aus steinalten Genossen der ersten Stunde, und der Standardscherz, den man sich zuletzt auch in höchsten Parteikreisen gern erzählte, ging folgendermaßen:

Tagung des Politbüros des Zen-tralkomitees der Partei der Arbeiterklasse. Punkt 1 der Tagesordnung: Hereintragen der Mitglieder des Politbüros. Punkt 2: Einschalten der Herzschrittmacher der Mitglieder des Politbüros. Punkt 3: Die Mitglieder des Politbüros singen gemeinsam das Lied "Wir sind die junge Garde des Proletariats" ...

Je älter eine Struktur, desto jugendfrischer die ihr beigeordnete Rhetorik. Weil die westlichen Gesellschaften immer älter werden, breitet sich in ihnen eine fast schon penetrante Infantilisierung aus. Die Erfindung von Viagra und seine privilegierte Zuteilung an kampferprobte Lustgreise sind Teil dieser Infantilisierung.

Parallel dazu verkindlicht sich die Art, in der Erinnerung geübt wird. Volksmärchen, wie sie Großmutter zu erzählen pflegt, treten an die Stelle seriöser Forschungsberichte, naive Schauergeschichten mit säuberlicher Aufteilung in gut und böse und einer deftigen Moral von der Geschicht’ am Ende, damit es die Kinder ordentlich mitbekommen. Und indem die Großmutter so erzählt, wird sie selber wieder jung, erlebt das Erzählte hautnah und bildkräftig nach, als wär’s ein Stück von ihr.

Man muß schon froh sein, wenn solche Märchenstunde hin und wieder einmal von einem Realereignis unterbrochen wird, wie jetzt dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin. Daß dieser Umzug faktisch zehn Jahre zu spät kommt, daß er uns, hätte er früher stattgefunden, so manche Vergreisungsmacke und so manchen Infantilisierungssschub erspart hätte – darüber dürfte kaum Zweifel bestehen. Aber immerhin, daß er jetzt tatsächlich über die Bühne ging, war doch ein hoffnungsvolles Zeichen.

Vor allem wurden dadurch neue historische Markierungspunkte gesetzt, neue Datierungsmöglichkeiten geschaffen, an denen sich die politischen Akteure ganz unwillkürlich orientieren werden. Man hat nun wieder ein starkes, symbolträchtiges Datum, bei dem man in späteren Erzählungen "dabeigewesen" sein kann, ohne seine persönliche Altersstrecke allzu sehr dehnen zu müssen.

Natürlich war seinerzeit die deutsche Wiedervereinigung, die den Umzug ja erst ermöglicht und opportun gemacht hat, das weitaus symbolträchtigere Datum. Aber für die meisten deutschen Politiker änderte sich damals leider fast nichts, sie saßen weiter wie festgewachsene Pilze in ihren Bonner Büros und schoben die alten Kugeln. Das hat sich nun doch etwas geändert. Man ist, um es sarkastisch zu sagen, zwar immer noch für Viagra, aber aus anderen, gediegeneren Gründen.

Im lieben alten Bonner Presseclub in der Brüningstraße, der jetzt geschlossen ist, kursierte kurz vor dem Umzug ein Scherz, der dafür sehr bezeichnend ist (übrigens soll ihn der Kabarettist Dieter Hallervorden zum ersten Mal erzählt haben). Bundeskanzler Schröder läßt demnach in Wiesbaden im Büro von Hans Eichel telefonisch anfragen, ob der ehemalige hessische Ministerpräsident neuer Bundesfinanzminister werden wolle. Wiesbaden antwortet knapp mit dem Bescheid: "Viagra". – "Viagra, Viagra, was soll denn das heißen?" schimpft Schröder. Und Wiesbaden erläutert: "Eichel steht zur Verfügung."

Viagra also nicht mehr als Aphrodisiakum für abgewrackte historische Langstreckenläufer und infantile Erinnerungsrentner, sondern als Hebel für fruchtbringendes Zupacken, für herzhaftes Anpacken sozialpolitischer Probleme, die endlich einmal gelöst werden müssen, ab man die Lösungen nun liebt oder nicht, ob sie einem ins erotische Ideal passen oder nicht. So läßt man sich die Anspielung gefallen.

In Bonn, darüber war man sich im Klub einig, hätte aus dem Eichelschen Sparprogramm nie etwas werden können. In Berlin steht es jetzt wenigstens als Potenz im Raum. Schröder und Eichel könnten damit in die Geschichte eingehen und aus einem vorläufig noch rein symbolischen Datum ein wirkliches machen.


 
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