© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/99 03. September 1999


Zweiter Weltkrieg: Ursachen und Hintergründe des Kriegsausbruchs vor 60 Jahren
Als die Revision von Versailles scheiterte
Manfred Rauh

Im November 1937 erklärte der damalige britische Lordsiegelbewahrer und spätere Außenminister Halifax dem deutschen Diktator Hitler, die Fehler des Versailler Diktats müßten richtiggestellt werden. Halifax sprach von den "Änderungen der europäischen Ordnung ..., die wahrscheinlich früher oder später eintreten würden. Zu diesen Fragen gehöre Danzig und Österreich und die Tschechoslowakei. England sei nur daran interessiert, daß diese Änderungen im Wege friedlicher Evolution zustande gebracht würden und daß Methoden vermieden würden, die weitgehende Störungen, wie sie weder der Führer noch andere Länder wünschten, verursachen könnten".

Halifax gab damit der Erkenntnis Ausdruck, daß die Versailler Ordnung, wie sie als Ergebnis des Ersten Weltkriegs entstanden war, willkürlich, gewalttätig und unnatürlich war, daß sie hauptsächlich den Interessen der französischen Hegemonialpolitik diente, die Verlierer des Ersten Weltkriegs demütigte und das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Mitteleuropa mit Füßen trat. Halifax gab deshalb zu verstehen, daß die deutsche Revisionspolitik, wie sie seit der Weimarer Republik betrieben worden war, als berechtigt anerkannt wurde: Die Deutschen in Österreich, im Sudetenland, in Danzig und gegebenenfalls in Polen sollten nicht mehr daran gehindert werden, sich mit dem deutschen Mutterland zu vereinigen, Deutschland sollte wieder seinen gebührenden Platz als eine der führenden europäischen Mächte einnehmen, und auf den Erhalt der künstlichen Staatsschöpfungen im östlichen Mitteleuropa, die bislang als Klientel der französischen Hegemonialpolitik gedient hatten, wurde kein Wert mehr gelegt.

Britisches Appeasement war keine Politik der Schwäche

Diese Politik der britischen Regierung, die als Appeasementpolitik bekannt wurde, machte sich auch die französische Regierung nolens-volens zu eigen, zumal sie bei keiner anderen Großmacht Unterstützung für die Erhaltung des status quo erwarten durfte. Der sowjetische Diktator Stalin stellte im Jahr 1935 fest, ein solch großes Volk wie die Deutschen müsse die Versailler Fesseln sprengen, und die amerikanische Regierung hatte spätestens seit Präsident Hoover und seinem Außenminister Stimson um 1930 den friedlichen Wandel der europäischen Verhältnisse zum Programm erhoben. Auch Franklin D. Roosevelt, seit 1933 Präsident, war mitnichten der Deutschenhasser oder Deutschenfresser, als welcher er von unkundigen Betrachtern später öfters hingestellt wurde. Was Roosevelt erstrebte, war eine befriedete Welt unter amerikanischer Führung, in welcher alle Völker in Freiheit und Selbstbestimmung auf ihrem angestammten Siedlungsgebiet lebten, wobei gerade die Deutschen, das leistungsfähigste und zahlenmäßig stärkste europäische Volk, eine tragende Rolle zu spielen vermochten.

Die Appeasementpolitik, wie sie in den Jahren vor dem Krieg vor allem von der britischen Regierung betrieben wurde, war keineswegs eine Politik schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber den Diktatoren, sondern sie stellte den Versuch dar, in Europa ein natürliches und gefestigtes Gleichgewicht herzustellen. Im Rahmen der Appeasementpolitik hätte Deutschland fast alle Revisionsziele erreichen können, von der Vereinigung der meisten Deutschen in einem Staat bis hin zur Stellung als Großmacht und mitteleuropäischen Vormacht. Allerdings hatte die Appeasementpolitik zwei Besonderheiten: Erstens sollte die Revision auf friedliche Weise ohne Gewaltanwendung erfolgen, und zwar im Konzert der Mächte, d. h. in Abstimmung mit anderen. Zweitens sollte dieses Konzert der Mächte die vier Länder Britannien, Frankreich, Deutschland und Italien umfassen, während die Sowjetunion ausgeschlossen blieb.

Der Ausschluß Rußlands aus dem europäischen Konzert hatte verschiedene Gründe. Seit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war es ein Grundbaustein der Politik in den westlichen Hauptstädten, Deutschland und Rußland getrennt zu halten oder sie gegeneinander auszuspielen. Denn die Einigung beider Länder schloß ein Potential zusammen, das imstande war, ganz Europa zu beherrschen und noch darüber hinaus zu wirken. Die Verständigung zwischen Deutschland und Rußland lag seit dem Ersten Weltkrieg um so näher, als beide Länder Revisionsziele hatten, die sie vielfach, so etwa gegenüber Polen, durch vereintes Handeln am leichtesten erreichen konnten.

Die Appeasementpolitik suchte deshalb die deutschen Revisionswünsche im Konzert der westlichen europäischen Mächte zu befriedigen, um Deutschland an den Westen zu binden und es vor der russischen Verlockung zu bewahren. Ein derart befriedetes Deutschland konnte dann wiederum ein Gegengewicht zu Rußland bilden und das westliche Europa gegen die russische Gefahr abschirmen. Es kam hinzu, daß die sowjetische Führung‹ seit den Tagen Lenins damit rechnete, in Zukunft werde der Krieg zwischen den kapitalistischen Ländern nicht ausbleiben und die Sowjetunion werde daraus Gewinn schlagen. Es war eine feste Überzeugung in den westlichen Hauptstädten, daß die Sowjetregierung den Krieg zwischen den kapitalistischen Ländern wünsche und darauf hinarbeite. Die Verständigung Deutschlands mit dem Westen auf der Grundlage der Revisionspolitik wurde damit um so dringlicher; andernfalls mochte es Stalin gelingen, die kapitalistischen Länder in den Krieg zu verwickeln, beispielsweise indem er Hitler als nützlichen Idioten verwendete, der den Krieg auslöste.

Hitler wandte sich vom Westen ab

Über all dies setzte Hitler sich hinweg. Hitler erstrebte keine Revisionspolitik und insofern auch keine nationale Politik. Sondern nach dem, was man heute aus den Quellen und den Tatsachen erschließen kann, erstrebte Hitler die kriegerische Unterwerfung und Beherrschung mindestens Europas noch mehr. Dies gedachte er zu bewerkstelligen, indem er einzelne Gegner nacheinander niederwarf und sich dafür jeweils den Rücken freihielt. Der Anschluß Österreichs und die Abtrennung des Sudetenlands von der Tschechoslowakei hielten sich noch im Rahmen der Revisionspolitik und konnten von den europäischen Westmächten hingenommen werden. Nach der Besetzung der Resttschechei im Frühjahr 1939 gaben die Appeaser am 31. März 1939 eine Garantieerklärung für Polen ab, die sich freilich nur auf die Unabhängigkeit Polens bezog, nicht jedoch auf seinen Gebietsstand. Diese Geste sollte keineswegs das Ende der Appeasementpolitik anzeigen, vielmehr Hitler unter Druck setzen und ihn daran erinnern, daß er Revisionsforderungen gegenüber Polen nicht im Alleingang durchsetzen dürfe, sondern allenfalls im Einvernehmen mit den Westmächten. Darauf wollte Hitler sich nicht einlassen; statt dessen suchte er nun die Verständigung mit Stalin. Er erreichte sie, als Ribbentrop und der sowjetische Außenminister Molotow am 23. August 1939 einen Nichtangriffsvertrag unterzeichneten, der als Hitler-Stalin-Pakt bekannt wurde.

Formell scheinbar harmlos, stellte der Pakt in Wahrheit den entscheidenden Wendepunkt in den Beziehungen der Mächte dar. Tatsächlich erzeugte er ein verkapptes Bündnis zwischen Deutschland und Rußland, und zwar ein Angriffsbündnis, das sich unmittelbar gegen zwischeneuropäische Kleinstaaten richtete, mittelbar jedoch gegen die europäischen Westmächte. In einem geheimen Zusatzprotokoll zu dem Pakt wurde vereinbart, daß Polen bis zur Weichsel in die deutsche Einflußsphäre fallen solle, dagegen Restpolen, Finnland, Estland, Lettland und Bessarabien in die sowjetische. Das hieß konkret, daß beide Seiten die jeweiligen Gebiete gewaltsam in Besitz nehmen konnten. Zugleich folgte daraus, daß Hitler sich vom Konzert der westlichen europäischen Mächte abwandte und damit deutlich machte, daß er seine Politik nicht mehr mit den Westmächten, sondern gegen sie verfolgen wollte. Darin enthalten war die Gefahr, daß Hitler sich durch den Pakt mit Stalin den Rücken freimachte, um nach der Niederwerfung Polens sich gegen die Westmächte zu wenden. Dies hat Hitler offenbar auch beabsichtigt. Stalin gab also Hitler durch den Pakt den Weg in den Krieg frei. Wahrscheinlich spekulierte Stalin darauf, Deutschland und die europäischen Westmächte würden sich im Krieg so sehr erschöpfen, daß Rußland anschließend mühelos die ausgelaugten Reste Europas einsammeln könnte. Der Hitler-Stalin-Pakt stellte demnach nicht bloß einen taktischen Winkelzug in Hitlers Polenpolitik dar, sondern er sprengte das europäische Gleichgewicht und setzte die Westmächte einer unmittelbaren Existenzgefährdung aus. Darauf konnte es nach den herkömmlichen Regeln der Macht- und Gleichgewichtspolitik nur eine Antwort geben: den Krieg. Insofern hatten die Westmächte gar keine andere Wahl, als Deutschland den Krieg zu erklären, nachdem Hitler am 1. September die Wehrmacht in Polen hatte einmarschieren lassen und alle Vermittlungsversuche gescheitert waren.

Im November 1939 sagte Halifax auf einer Empire-Konferenz, ein wichtiges Ergebnis des Hitler-Stalin-Pakts sei die Gefahr, daß der Bolschewismus sich nach dem westlichen Europa ausbreite. Man werde abwarten müssen, ob Hitler diese Bewegung anführe (also nur das Werkzeug Stalins darstelle) oder ob sie ihn auslöschen werde. Die Regierung habe sich entscheiden müssen, ob sie sich Rußland entfremde oder sogar den Krieg erkläre. Da hierdurch aber Rußland noch mehr an die Seite Deutschlands getrieben werde, wolle die Regierung sich zuerst auf die deutsche Bedrohung konzentrieren und hoffe, den Ausbruch offener Feindseligkeiten gegenüber Rußland vermeiden zu können.

Was war demnach die eigentliche Ursache für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs? Hitlers Weltherrschaftsstreben, seine Unvernunft, Stalins Heimtücke? Die Frage ist in dieser Form falsch gestellt. Zweifellos könnte man fragen, warum Hitler, warum Stalin oder warum beide gemeinsam den Krieg entfesselten. Aber wenn man darauf eine Antwort fände, so schlösse sich doch sofort die nächste Frage an: warum sie es denn konnten. Damit gerät eine tiefere Schicht in den Blick, nämlich der Zustand des internationalen Systems, die Ordnung (oder Unordnung) der Staatenwelt, und hier wird die eigentliche Ursache für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu suchen sein. Daß Kriege kein Segen für die Betroffenen sind und meistens noch nicht einmal für die Sieger, ist seit langem bekannt. Ebenso ist seit langem bekannt, wie dem abzuhelfen wäre.

Die Herrschaft des Rechts wurde nicht durchgesetzt

Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde versucht, eine organisierte Völkergemeinschaft zu schaffen, einen Bund zur Wahrung und Erzwingung des Friedens; es wurde versucht, eine brauchbare Weltfriedensordnung zu schaffen, in der die Völker gleichberechtigt zum gemeinsamen Wohl zusammenarbeiteten; es wurde versucht, eine geordnete Welt zu schaffen, in der das Recht herrschte; es wurde versucht, den dauernden Frieden zu schaffen, aus welchem alle gleichermaßen ihren Vorteil zogen. Das Vorhaben mißlang, weil einige Sieger des Ersten Weltkriegs es nicht wünschten. An die Stelle des Idealismus trat wieder die offene Anerkennung des Grundsatzes, daß Gewalt und Selbstsucht die maßgebenden Faktoren des internationalen Zusammenlebens seien.

Das war eben der Rahmen, in welchem sich die Politik vor dem Zweiten Weltkrieg wieder bewegte, und diesen Rahmen füllten Hitler wie Stalin auf ihre besondere Weise aus. Wäre nach dem Ersten Weltkrieg eine tragfähige Weltfriedensordnung zustande gekommen, jene geordnete Welt, in der das Recht herrschte, so hätte es einen Hitler als Staatsmann wahrscheinlich nie gegeben, und selbst wenn es ihn gegeben hätte, so hätte er nicht viel anrichten können, weil eine wirkungsvolle organisierte Völkergemeinschaft ihn daran gehindert hätte. Es ist heute üblich, bei einzelnen Personen oder Ländern nach einer Kriegsschuld zu fahnden. In Wahrheit wird damit nur vertuscht, daß die Politiker, die Intellektuellen oder die Menschen insgesamt zu träge, zu kurzsichtig oder zu feige sind, jene geordnete Welt zu schaffen, in der das Recht herrscht.

 

Dr. habil. Manfred Rauh war von 1987 bis 1997 Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) der Bundeswehr. Von 1991–98 erschien von ihm im Verlag Duncker&Humblot eine dreibändige "Geschichte des Zweiten Weltkrieges"


 
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