© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/99 10. September 1999


Pankraz,
der Selbstversuch und die Ratte im Schwimmbottich

Mörderische Forschung, Wissenschaftler zwischen Irrsinn und Idealismus". So bärbeißig lautet das Titelthema im Septemberheft von Bild der Wissenschaft, dem führenden deutschen Wissenschafts-Magazin. Bei Lektüre der einzelnen Beiträge stellt sich heraus, daß die experimentierenden (Natur-)Wissenschaftler in der Regel nicht nur höchst gewalttätig mit ihren diversen lebenden Forschungsobejekten umgehen, seien es nun Tiere oder Menschen, sondern gewalttätig auch mit sich selbst.

Anders gesagt: Die Wissenschaftler machen sich immer wieder selbst zum Forschungsobjekt, der "Selbstversuch" ist hoch im Schwange – und fordert seine Opfer. Dazu kommen Forscher, die sich aufgrund schwer korrigierbarer Laborbedingungen mit Aids oder Sonstigem infizieren, sich verstrahlen oder sich manchmal sogar in die Luft sprengen. Die Opferzahlen, die Bild der Wissenschaft nennt, muten geradezu unheimlich an.

Der einzige Mangel dieses sensationellen Heftes liegt darin, daß nicht gründlich nach den Ursachen für die Opfergesinnung der neuzeitlichen Wissenschaft gefragt wird. Es gibt ein Interview mit einem Psychologen, der etwas von "Leistungsmotivation" und "emotionaler Schleife" zusammenstottert, aber über den entscheidenden historischen Hintergrund der Affäre erfährt man nichts, nichts darüber, daß dem die Forschung leitenden Begriff des "Experiments" von Haus aus ein Moment der Gewalttätigkeit innewohnt.

Er geht zurück auf den großen Wissenschaftsreformator des frühen siebzehnten Jahrhunderts, Francis Bacon, dem Pankraz vor vierzehn Tagen schon einmal einige Zeilen gewidmet hat. Für ihn (und er drückte damit genau den Geist der damaligen Avantgarde aus) sollte die Wissenschaft eine "inquisitio legitima" sein, eine "rechtmäßige, begründete Forschung". Wobei das unheimliche Wort "inquisitio", Inquisition, das ja ebenso und gleichzeitig von den Ketzerverfolgern in Spanien gebraucht wurde, keineswegs zufällig war. Tatsächlich ging es darum, daß die Naturobjekte – wie die Ketzer in Spanien – einer hochnotpeinlichen "Befragung" unterzogen werden sollten.

Wissenschaft wie Ketzerverfolgung hatten einen gemeinsamen Nenner: die Militäraktion. Eine einzelne "Einheit" der Natur, beziehungsweise der Ketzerbewegung, wird gleichsam durch Kavallerieangriff vom Ganzen isoliert und dann durch Einsatz von Hellebarde und Säbel immer mehr in die Ecke gedrängt. Das Handeln, das Zernieren und Angreifen, geht der Erkenntnis voraus. Zunächst wird isoliert und in die Ecke gedrängt, erst dann wird befragt und – möglicherweise – Erkenntnis gewonnen.

Freiwillig, so die felsenfeste Überzeugung von Bacon und allen seinen Nachfolgern, gibt niemand etwas her. Stets muß er dazu gezwungen werden, stets geht es um die Frage der Macht. "Wissen ist Macht" – man kennt diesen Spruch aus der Zeit der Arbeiterbildungsvereine des 19. Jahrhunderts. Er stammt von Bacon.

Und Bacon fand auch den Namen für den Rahmen, innerhalb dessen der Angriff zu führen war: "Experiment", was ursprünglich nichts weiter als "Erfahrung" hieß. Frühere Naturbeobachter verwandten für ihr forschendes Erfahren jedoch andere Wendungen, zum Beispiel "manum industria", also das, was mit den Händen gemacht wird. Das war das Wiegen mit der Waage oder das Mischen von Essenzen. Nie wäre es jemandem vor Francis Bacon in den Sinn gekommen, etwa eine Ratte in einen Bottich mit Wasser zu schmeißen und zu messen, wie lange sie schwimmen kann, ohne einen Muskelkrampf zu kriegen und zu ertrinken.

Genau von dieser Art waren nun die Experimente, die Francis Bacon empfahl. Er trennte Erfahrung und Experimentum voneinander ab, und zwar dergestalt, daß Experimentum privilegierte Erfahrung sein sollte, inszenierte, arrangierte Erfahrung, also Erfahrung durch aktives, aggressives Handeln des Experimentators, Inquisitio, "inquiry".

Bloßes Beobachten genügte nicht mehr, es mußte eine Beobachtungsanordnung, eine "Versuchsanordnung" geschaffen werden, in der der isolierte Naturvorgang immer und immer wiederholt wurde. Nur in der Wiederholung lag experimentelle Sicherheit. Die damit verbundene Gewaltsamkeit richtete sich nicht nur gegen den Befragten, sondern nicht minder gegen den Befrager. Er hatte sich eben streng militärisch zu verhalten, Disziplin zu üben, Selbstopfer eventuell in Kauf zu nehmen. Nicht nur jegliche Ungeduld, sondern auch jeder Spaß an der Sache war geächtet.

Die ersten Versuchsdurchgänge, vielleicht bis zu Nummer vierzig oder fünfzig, machen vielleicht noch Spaß; einem Sadisten macht es vielleicht Spaß, hintereinander vierzig oder fünfzig Ratten sich zu Tode schwimmen zu lassen. Doch mit denen ist noch nicht das geringste gewonnen. Erst wenn der Spaß definitiv aufhört, wenn jeglicher Spaß längst erstorben ist, wenn es für alle Beteiligten buchstäblich nur noch um Leben und Tod geht, beim vierhundertsten oder fünfhundertsten Mal möglicherweise, wird das Experiment beweiskräftig und verallgemeinerbar.

"Human" und "ethologisch" gesinnten Forschern, von Goethe bis Konrad Lorenz, war der Baconsche Wissenschaftsbegriff ein Greuel, diese ewige "Vergewaltigung" der Natur, dies ewige Isolieren, Attackieren und Wiederholen. Aber sie blieben hoffnungslos in der Minderheit. Denn die neue Methode hatte, verbunden mit dem Siegeszug allumfassender Quantifizierung, größten Erfolg, zeitigte Weltveränderung, Tempo, Massenwohlstand.

Was sie außerdem noch zeitigt, kann man in der neuesten Nummer von Bild der Wissenschaft nachlesen: Irrsinn direkt neben hehrem Idealismus, Mordgesinnung, Selbstmordgesinnung. Aber natürlich ist uns das der Wohlstand allemal wert. Außerdem gibt es für Experimentatoren heute ja Schutzanzüge.


 
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