© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/99 10. September 1999


Zeitschriften: "wirselbst"-Sonderheft zur Vertreibung
Wiederkehr des Verdrängten
Matthias Seegrün

Als die in Koblenz erscheinende Zeitschrift "wirselbst" vor Monaten eine Ausgabe zur Vertreibung plante, ging es darum, das aus dem bundesrepublikanischen Geschichtsbewußtsein weitgehend ausgeblendete Schicksal der in den Jahren 1944 bis 1950 aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und den deutschen Siedlungsgebieten Ost- und Südosteuropas vertriebenen Deutschen schwerpunktmäßig zu thematisieren. Noch nicht abzusehen war zu diesem Zeitpunkt, welch traurige Aktualität das Thema durch die Ereignisse im Kosovo erlangen würde.

Unter dem Titel "Vertreibung – Wiederkehr des Verdrängten" behandelt das jüngst veröffentlichte Themenheft die an Deutschen begangenen Vertreibungsverbrechen unter Einbeziehung der Geschehnisse im Kosovo, ohne andere Konfliktherde wie Kurdistan, Palästina oder Tschetschenien aus dem Blick zu verlieren.

Aus der Vielzahl der Beiträge sticht "wirselbst"-Vordenker Henning Eichberg hervor, der in seinem Beitrag "Verfassungspatriotismus heißt Krieg" den Schlüssel zum Verständnis des Nato-Krieges gegen Jugoslawien in der westlichen Nichtanerkennung der Völker sieht. Die Luftangriffe gegen Serbien seien neben ihrer Funktion als Krieg Amerikas zur Aushebelung der Uno auch ein deutscher Krieg gegen die eigene Vergangenheit – ein Gründungskrieg der Anhänger des Verfassungspatriotismus zur Schaffung eines europäischen Reiches, "das von den Völkern absieht".

Alfred-Maurice de Zayas – mit "Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen" Autor eines der Standardwerke zur Vertreibung – stellt das Recht auf Heimat als "fundamentales Menschenrecht und Bestandteil des universellen Völkerrechts" in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Auch die deutschen Vertriebenen könnten sich bei der Einforderung ihrer Menschenrechte auf die Uno berufen.

Andreas Selmeci von der Gesellschaft für bedrohte Völker und Heinz Nawratil arbeiten die Konsequenzen der nicht erfolgten Auseinandersetzung mit der Vertreibungsvergangenheit heraus. Nur so habe es dazu kommen können, daß bis in heutige Zeit vergleichbare Massenverbrechen erfolgreich durchgeführt werden konnten.

In "Das große Schweigen oder Die Unfähigkeit zu trauern" zeigt Gerhard Schwarz die Vertreibung als Tabu deutscher Identität auf. Es werde eine "einseitige Vergangenheitsbewältigung" betrieben, in der Deutsche ausschließlich als Täter, aber niemals als Opfer vorkommen. Ähnlich bewertet dies auch Herbert Ammon, der sich mit der mangelnden Auseinandersetzung der deutschen Zeitgeschichtsforschung mit dem Thema befaßt und als Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus den Deutschen ein "anscheinend unheilbar beschädigtes kollektives Selbstbild" attestiert.

Neben zahlreichen weiteren qualitativ hochwertigen Beiträgen, wie dem Alfred Theisens über Fakten der Vertreibung, erschüttert vor allem der besonders eingängige Text des in Ostpreußen geborenen Autoren Arno Surminski, dessen Eltern im März 1945 in die Sowjetunion deportiert wurden. Bekanntheit erlangte Surminski durch seinen – später verfilmten – autobiographischen Roman "Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland?"

Der häufig noch unbefriedigende Umgang mit der Vertreibungsgeschichte in ihren Ländern geht aus einem Interview der Zeitschrift mit dem tschechischen Dissidenten Ludek Pachmann sowie den Beiträgen seines Landsmanns Petr Prihodas und den beiden polnischen Wissenschaftlern Witold Stankowski und Artur Hajnicz hervor.

Baldur Springmann wählt in "Vertreibung dreifach" einen etwas anderen Zugang zum Thema. Neben einem Plädoyer, auch das Leid der deutschen Vertriebenen zu achten, ermutigt er dazu, sich der Geborgenheit in der heimatlichen Landschaft, im eigenen Volk und im Göttlichen zu öffnen. Seine Warnung betrifft den durch die Gentechnik bedrohten menschlichen Erbstrom.

Abgerundet wird diese Ausgabe durch Ausführungen Henning Eichbergs in "Das gute Volk. Über multikulturelles Zusammenleben". Passend hierzu eröffnet Winfried Knörzer eine Debatte zum Thema Ethnopluralismus. Sein Vorwurf an die Vordenker dieses neurechten Theoriekonzepts, Alain de Benoist und Henning Eichberg: Ihnen gehe es nicht mehr wirklich um die Verteidigung des eigenen Volkes, sondern um die Verteidigung eines allgemeinen Prinzips – bei Benoist die "Differenz", bei Eichberg das "Volkliche" als allgemein gehaltene archaisch-natürliche Wirklichkeitsmacht. Ethno-pluralismus berge die Gefahr, sich zum Multikulturalismus zu transformieren und sei somit unbrauchbar für das Theoriegebäude eines Neuen Nationalismus. Die Debatte soll fortgesetzt werden.

Das Heft umfaßt 168 Seiten und ist für 20 Mark erhältlich beim Verlag Siegfried Bublies, Postfach 168, 56001 Koblenz


 
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