© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/99 10. September 1999


Claus Leggewie: Von Schneider zu Schwerte
Wandel durch Verdrehung
Menno van Heeckeren

Ist es möglich, daß überzeugte Nazis sich über Nacht zu Demokraten wandeln? Wer die Geschichte der bundesrepublikanischen politischen Kultur anhand der Institutionen erforscht, müßte fast zwangsläufig zu einer solchen Einsicht gelangen. Wie wäre es sonst möglich, daß die Bundesrepublik schon in ihrer Anfangsphase über ein politisch halbwegs zuverlässiges Parlament, Beamtentum und Gerichtswesen verfügen konnte? Hängt die Stabilität der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" nicht wesentlich mit einer gelungenen re-education zusammen? Das leuchtet um so mehr ein, wenn man den Vergleich zur Weimarer Republik zieht. Zeigt ein solcher Vergleich nicht überaus deutlich, daß ein rechtsstaatlich-demokratisches System auf eine entsprechende politische Mentalität der Bevölkerung angewiesen ist?

Daß es sich bei der Aneignung demokratischer Vorstellungen jedoch um einen schwierigen Prozeß der "Selbstaufgabe" handeln kann, wird in der politisch-institutionellen Geschichtsschreibung oft vergessen. Der Gießener Politologe Claus Leggewie ist nun in diese Bresche gesprungen: Sein Buch über "das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte" kann man als eine Parabel der jüngsten deutschen Geschichte lesen. Am Fall des orientierungslosen, aber ehrgeizigen Jungakademikers Hans-Ernst Schneider schildert er die nationalsozialistische Versuchung, der so viele junge Männer aus dem protestantischen Bildungsbürgertum Anfang der dreißiger Jahre erlagen.

Der besagte Schneider vollzog ein halbes Jahr nach der Machtergreifung den Eintritt in die SA, nicht aus einem geschlossenen nationalsozialistischen Weltbild heraus, sondern eher aus einem Bedürfnis nach Halt und Sicherheit. Dem Germanisten Schneider gelang aus dieser Position ein schneller Aufstieg in die NS-Kulturhierarchie. Ende der dreißiger Jahre trat er zur SS über und gehörte nunmehr zum persönlichen Stab Heinrich Himmlers. Im Krieg folgten Auslandseinsätze (die übrigens nichtmilitärischer Natur waren) im Baltikum und in den Niederlanden. Vor allem wegen seiner Stellung als "Koordinator im Germanischen Wissenschaftseinsatz" in den Niederlanden, in der er Geräte für medizinische Experimente an KZ-Opfern entwendet haben soll, wurde Schneider nach dem Krieg die persönliche Verstrickung in verbrecherischen Praktiken angelastet.

In den wirren Verhältnissen unmittelbar nach Kriegsende gelang ihm der spektakulärste Etikettenschwindel, den die deutsche Nachkriegsgeschichte bisher aufzuweisen hat: In den letzten Apriltagen 1945 wußte Schneider aus dem ringsum belagerten Berlin zu fliehen und setzte sich nach Lübeck ab, wo er zu dem Entschluß gelangte, seine Identität als SS-Mann abzulegen. Das Einwohnermeldeamt Lübeck machte keine großen Schwierigkeiten und verschaffte ihm neue Papiere. Schneider hieß nunmehr Hans Schwerte, geb. 1910 zu Hildesheim.

Man kann diesen Namensschwindel als persönliche Verlogenheit, ja sogar als Feigheit verurteilen. Doch ein solches voreiliges Verdammungsurteil wird der Komplexität und Ungradlinigkeit des Falles nicht gerecht. Es bleibt nämlich die Frage, weshalb sich Schwerte, wäre sein einziges Motiv das Nicht-Aufgedeckt-Werden gewesen, sich für den öffentlich exponierten Beruf des Hochschullehrers, später sogar für die Stelle des Hochschulrektoren, entschieden hat. Leggewie wagt sich hier mit einer interessanten These hervor. Es sei, so Leggewie, Schneider-Schwertes "pädagogischer Urtrieb" gewesen, der sowohl seinen volkskundlichen Missionsdrang im Nationalsozialismus, sein Plädoyer für die bundesrepublikanische Demokratie als auch auch seine spätere Auseinandersetzung mit der "Deutschen Ideologie" erklären dürfte. All diese Anliegen konnte er seines Erachtens am besten als "Lehrer" verwirklichen.

Diese pädagogische Berufung Schneiders ging wesentlich auf sein Interesse an der germanischen Volkskunde zurück. Die offizielle Anerkennung, die die nationalsozialistischen Kulturämter dieser Disziplin entgegenbrachten, eröffnete Schneider neue Karrierechancen. Handelte es sich bei dem Fach vor 1933 um ein peripheres Hobbygebiet für deutschnational eingestellte Ethnologen, so erfuhr diese Richtung nach der Machtergreifung eine gigantische Aufwertung. Die "germanische Spielwiese" der Volkskundler, Ethnologen und Altphilologen wurde zu einem heftig umkämpften Terrain, in dem sich Himmlers "Ahnenerbe-Stiftung" und das "Amt-Rosenberg" die Kompetenzen streitig machten. Schneider nun hielt sich für besonders geeignet, als Pädagoge zu der Vermittlung des germanischen Erbes beizutragen. Es gelang ihm in der "Ahnenerbe-Stiftung" ein rascher Aufstieg.

Insofern könnte man behaupten, Schneider habe in der nationalsozialistischen Kulturbürokratie sowohl seine pädagogischen Fähigkeiten wie auch sein volkskundliches Interesse einsetzen können. Doch stellt sich auch die Frage, ob Schneiders Bildungsidealismus von sich aus richtunggebend war, oder ob er nicht vielmehr selber zum Objekt einer verführerischen Pädagogik wurde. Nicht von ungefähr ordnet Leggewie den "Fall Schneider" als schichtspezifische Intellektuellengeschichte ein: der protestantische Bildungshintergrund, in Kombination mit dem typischen Heimatgefühl der vom Reich abgetrennten Ostpreußen, habe die Empfänglichkeit des jungen Akademikers für die NS-Verführungspraktiken wesentlich gefördert.

Nach dem Zusammenbruch des Regimes vollzog Schwerte zwar den Bruch mit Schneiders politischer Einstellung, doch nicht mit dessen hehren pädagogischen Ansprüchen. Die Universität Erlangen erschien ihm für seine weitere Karriere eine brauchbare Wirkungsstätte. Schon als wissenschaftlicher Assistent sammelte er sich eine Gefolgschaft von angry young men, die dem muffigen Honoratiorenklima der traditionellen Alma Mater wenig abgewinnen konnten. Schwerte ragte aus der etwas behäbigen Erlanger Professorenschaft schon rasch heraus, indem er Initiativen für ein Studium Generale und ein Studententheater ergriff. Mit diesen Institutionen verschaffte er sich ein Forum für seine spezifische Form der Vergangenheitsbewältigung. Auffallend dabei ist, daß Schwerte in den frühen fünfziger Jahren die Konfrontation mit der "deutsch-faustischen Ideologie" noch sehr vorsichtig vorantrieb. Für Schwerte war die Idee maßgebend, daß die "Tiefgründigkeit der deutschen Seele" von den Nationalsozialisten bloß mißbraucht worden sei. Deshalb kam es ihm darauf an, die positiven Kräfte der "deutschen Ideologie" vor ihrer endgültigen Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus zu retten.

Es stellt sich heraus, daß der Schwerte der frühen 50er Jahre durchaus kein Musterschüler der re-education war, sondern eher bemüht, den Deutschen einen Rest an Eigenständigkeit zu sichern. Deutschland sollte nicht vollends zwischen den (politischen und kulturellen) Expansionsbestrebungen der beiden Großmächte zermahlen werden. Die Rehabilitierung der "Europa-Idee" bot da Anknüpfungspunkte. Für politisch Belastete erschien diese damals als unverdächtiges Refugium. Unter der Europa-Fahne sammelten sich in den frühen fünfziger Jahren sehr verschiedenartige politische Ansätze, variierend von ehemaligen Nazis, die hier ihren Antibolschewismus legitimiert sahen, über den National-Neutralisten, die nach einem "Dritten Weg" suchten, bis hin zu den katholischen "Abendlandphilosophen", die den ökonomischen Materialismus der Supermächte ablehnten.

War es Schwerte anfangs vorwiegend um die Bewahrung der "faustisch-deutschen Ideologie" zu tun, so ging er immer mehr zu diesem Traditionsbestand auf Distanz. Für die Herausbildung dieser Kritik war Schwertes Teilnahme an den "Nürnberger Gesprächen" von maßgeblicher Bedeutung. Schwerte wagte sich in diesen Diskussionsrunden zum ersten Mal auf wirklich glattes Eis hervor, indem er sich auf Fragestellungen wie "Was hat Auschwitz mit dem deutschen Menschen zu tun" einließ. Doch auch in diesen Diskussionsgruppen war er stets auf die nötige Distanz bedacht: es lag in seinem wohlverstandenen Eigeninteresse, die Grenze zwischen öffentlichem Bewältigungsdrang und privatem Schweigen scharf zu beachten. Neben dem "öffentlichen Gespräch" vollzog Schwerte die "Abarbeitung" seiner Vergangenheit, wie er es selber bezeichnete, vor allem über das Medium der Wissenschaft. Die Rolle des "Bekenntnisschreibens" kommt hier eindeutig der 1962 veröffentlichten Habilitationsschrift "Faust und das Faustische" zu. In diesem Werk unternahm er eine umfassende Suche nach den ideologischen Verrenkungen, denen der "Faust-Stoff" vor allem im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zum Opfer fiel. Darüber hinaus hatte diese ideologische Spurensuche eine symbolische Bedeutung für Schwertes eigenen Lebenslauf: Indem sie die allzu innige Verstrickung von Germanistik und Nationalrausch schildert, dokumentiert sie zugleich das eigene Schicksal und ermöglicht dadurch eine tiefgreifende Selbsterkenntnis.

Die letzte Phase in Schwertes Karriere fällt mit dem Aachener Rektorat zusammen. Daß gerade der erst vor knapp zehn Jahren berufene Germanist Schwerte 1973 Rektor der prominentesten technischen Universität Westdeutschlands wurde, mag ein kleines Wunder sein. Ausschlaggebend für diese Ernennung dürften Schwertes Qualitäten als Brückenbauer zwischen der konservativen Professorenschaft und der aufstrebenden APO-Generation gewesen sein. Seine vermittelnde Rolle zwischen den beiden "Fronten" hat ihm dabei hohe Anerkennung eingebracht, unter anderem vom damaligen Wissenschaftsminister Johannes Rau, der ihn bei seiner Emeritierung mit dem Bundestverdienstkreuz auszeichnete. Auch Leggewie äußert sich anerkennend über den "typisch sozialliberalen Funktionärstyp Schwerte".

Doch all dieser Zeugnisse eines gelungenen Gesinnungswandels zum Trotz mehrten sich – fast zwanzig Jahre nach seiner Emeritierung – die Anzeichen für Schwertes "Sturz". Im Mai 1995 war es soweit: Ein niederländisches Fernsehteam war dem "SS-Professor Schneider" auf die Spur gekommen. Es wurden Mutmaßungen über seine angebliche Beteiligung an der SS-Sonderaktion in Krakau angestellt, einem großangelegten Versuch zur Ausrottung der polnischen Intelligenz. Dieser Verdacht konnte jedoch nicht erhärtet werden. Es gab aber sehr wohl Indizienbeweise, daß Schneider an dem Raub medizinischer Instrumente niederländischer Universitäten beteiligt war. Jedoch beließen es die Rechercheure nicht bei juristisch belegbaren Vorwürfen: bald wurden über die Medien Skandalgeschichten verbreitet, die die Wellen der öffentlichen Empörung hochgehen ließen. Als "Disziplinarmaßnahme" wurden Schwerte alle seine Auszeichnungen und Titel mitsamt seiner Bibliothek genommen. Nur die Doktorwürde konnte er behalten.

Der Fall "Schneider-Schwerte", so lehrt uns diese ausgezeichnete politisch-wissenschaftsgeschichtliche Biographie, zeigt, wie sich nationale Begeisterung in den Dienst des Verbrechens stellen kann. Diese These ist an sich nicht neu. Darüber hinaus ist es Leggewie jedoch gelungen, das Verhältnis der Nachkriegsdeutschen zur Demokratie in ein neues Licht zu rücken. Er rechnet mit dem Mißverständnis ab, daß die freiheitlich-demokratische Grundausrichtung der Bundesrepublik nur West-Import war, zu dem die Deutschen aus ihrem eigenen Politikverständnis heraus keine Beziehung entwickeln konnten. Leggewie relativiert diese These. Er zeigt, daß es keine unüberwindbare Kluft zwischen dem westlich-demokratischen re-education-Gedanken und dem "deutschen Sonderweg" gab, daß eine Verbindungslinie zwischen beiden Welten möglich ist. Dabei war der Weg Schwertes ein durchaus schwieriger, oft von kognitiver Dissonanz geprägter "Bußgang", der aber einen hohen Erkenntniswert hat. Er steht sowohl für die politisch-psychologischen Bedrängnisse der Nachkriegsdeutschen als auch für deren erfolgreiche Aneignung neuen politischen Gedankenguts.

 

Claus Leggewie: Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte. Carl Hanser Verlag, München/Wien 1998, 368 Seiten, 45 Mark


 
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