© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/99 10. September 1999


Deutsche Einheit: Ungarn kündigt Reiseabkommen mit der DDR
Flucht über Budapest
Jörg Fischer

Am 27. Juni 1989 durchschneiden die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn bei Klingenbach symbolisch den Eisernen Vorhang zwischen ihren Ländern; die Bilder gehen um die ganze Welt. Millionen DDR-Bürger sahen am selben Abend die Bilder im "Westfernsehen", auch der Genosse Erich Honecker sah die von 50 Fernsehstationen gefilmte historische Tat. Trotzdem orakelte er am 14. August 1989 unverdrossen vor Arbeitern im thüringischen Erfurt: "Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf" und bewies damit seinen unvergleichlichen Humor.

Zum zehnten Jahrestag der Öffnung des Eisernen Vorhangs für DDR-Flüchtlinge würdigte wenigstens CDU-Chef Wolfgang Schäuble in einer Pressemitteilung Ungarns mutige Entscheidung: "Ungarn hat damals das Zeichen gesetzt, daß der Sozialismus und damit die DDR endgültig gescheitert waren."

Für Schäuble war dies "die Initialzündung für die sich überstürzenden Ereignisse im Herbst 1989, die schließlich in der Öffnung der Mauer am 9. November ihren Höhepunkt erreichten". Auch wenn damals keine CDU-Mitglieder vor Ort waren, sagt Schäuble weiter: "Wir haben Ungarns Hilfe nicht vergessen."

Das kann von den anderen Bundestagsparteien mit Ausnahme der CSU heute wie damals nicht behauptet werden. Auf Nachfrage der JUNGEN FREIHEIT erklärte die Ungarische Botschaft in Berlin, bislang keine diesbezüglichen Schreiben erhalten zu haben.

Am 10. September soll die offizielle ungarische Grenzöffnung vom 11. September 1989 gefeiert werden, an der weder Schröder noch irgendwer von Rot-Grün jemals einen Anteil hatte. Im Gegenteil, von der damaligen Opposition kamen Warnungen, die "Entspannungspolitik nicht zu gefährden". Wären die Genossen damals mit ihrer Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft durchgekommen, hätten die Deutschen aus der DDR allenfalls als Asylanten Aufnahme in der Bundesrepublik finden können.

Verständnis für die SED in linksliberalen Publikationen

Die Linken im damaligen Westteil Deutschlands quälte ein ganz anderes Problem: Die Partei der Republikaner war im Januar 1989 ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen und im Juni des selben Jahres sogar ins Europaparlament in Straßburg gelangt.

Mit fast den gleichen Worten wie die "Aktuelle Kamera" des DDR-Fernsehens wurde im Karl-Eduard-von-Schnitzler-Ton vor einer "faschistischen Gefahr" und "Großdeutschland" gewarnt. Da paßten die Probleme der Landsleute hinter dem inzwischen löchrigen Eisernen Vorhang überhaupt nicht ins Konzept.

Im Gegenteil, nicht die 40jährige SED-Herrschaft war schuld an der Krise im Honecker-Staat, sondern der Frust in der DDR nahm nach Ansicht des Berliner Tagesspiegels vom 26. August 1989 deshalb zu, weil "Ausreisende und Flüchtlinge große Lücken in Gesellschaft und Wirtschaft" hinterließen.

Krankenhausstationen müßten schließen, warf der Tagespiegel den flüchtenden Deutschen vor: "In einigen Städten und Regionen müssen DDR-Bürger weit reisen, um einen Spezialisten zu sehen". Wie die Journalisten zu der Ansicht kamen, daß die damals noch geringe Zahl von Flüchtenden zum Großteil Krankenschwestern und Ärzte waren, blieb ihr Geheimnis. Alles klang eher nach 1961, als der Mauerbau unter anderem mit dem "Ausbluten der DDR" an Fachkräften gerechtfertigt wurde.

Doch dem linksliberalem Zeitgeist entsprechend ging das Berliner Blatt noch weiter: "Die DDR versucht, auch durch die Beschäftigung von Ausländern die Wirtschaft in Gang zu halten. 25.000 Polen verdienen sich im Dienstleistungsbereich und auf dem Bau ihr Geld. Etwa 53.000 Vietnamesen, 15.000 Personen aus Mozambique, 10.000 Kubaner, 1.000 aus Angola und 900 Chinesen versuchen in etwa 800 Betrieben am Wirtschaftsrad der DDR zu drehen". Warnend fügte das Berliner Blatt hinzu: "Soziale Konflikte und verstärkte Ausländerfeindlichkeit sind nicht ausgeblieben".

Daß in der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft kurzfristige Beschäftigung von Ausländern gar nicht eingeplant war, entging den hochbezahlten Fachjournalisten offentsichtlich.

Jegliche Ausländerbeschäftigung in der DDR beruhte auf langfristigen, zwischenstaatlichen Verträgen, für die seit dem Frühsommer einsetzende Flüchtlingswelle wurde keiner der aufgeführten Fremdarbeiter angeworben.

Speziell die Arbeiter aus den Entwicklungsländern erhielten eine Berufsausbildung und sollten, so die Planung, nach einigen Jahren Praxis in ihre Heimat zurückkehren, "um am Aufbau des Sozialismus in ihren jungen Nationalstaaten teilzunehmen", wie es im Propaganda-Jargon der SED hieß.

Parteiübergreifende Hilfe in Österreich für Flüchtlinge

Ganz anders verhielt sich da das neutrale Österreich: Als am 15. August 1989 der Bonner Staatssekretär Jürgen Sudhoff bei Thomas Klestil, damals Generalsekretär im österreichischen Außenministerium, um Hilfe für die nach Österreich "einsickernden DDR-Bürger" bat, sagte der ÖVP-Politiker sofort Unterstützung zu. Innerhalb nur einer Stunde stellte der damalige SPÖ-Innenminister Franz Löschnack entsprechende Bahnkapazitäten bereit. Auch als ab 11. September, null Uhr, Tausende Trabis und Wartburgs über die ungarische Grenze bei Hegyshalom rollten, hatte das österreichische Innenministerium vorgesorgt: Das Zweitaktgemisch stand kostenlos bereit. Bis Monatsende nutzten rund 25.000 Deutsche aus der DDR die Ausreise über Österreich.


 
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