© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/99 17. September 1999


Sachsen-Anhalt: Warum die Plattenbausiedlungen in Stendal wegmüssen
Gezielter Rückbau nötig
Felix KIlian

Vor fünf Jahren erst ist die Siedlung hier saniert worden. Jetzt sollen ganze Straßenzüge abgerissen werden. Das ist doch verrückt." Die alte Frau versteht die Welt nicht mehr. Es geht um eine der typischen Plattenbausiedlungen, wie es sie in den neuen Ländern in nahezu allen größeren Städten gibt. Diese hier steht in Stendal. Dort wie andernorts will die Stadt so schnell wie irgend möglich zahlreiche Plattenbauten abreißen lassen. Der Grund hierfür ist der enorme Leerstand in den riesigen Baukomplexen aus den siebziger oder achtziger Jahren. Insgesamt stehen in den fünf östlichen Bundesländern mehr als 300.000 Wohnungen leer. In Stendal sind etwa 3.000 davon – auch in zwischenzeitlich teuer sanierten Betonsiedlungen – trotz günstigster Mieten nicht mehr an den Mann zu bringen. "Ohne Arbeitsplätze besteht kein Bedarf mehr für so viele Wohnungen", erklärt Jörg Daniel, Sprecher der Stadtverwaltung. Dabei hat Stendal noch Glück im Unglück gehabt. Die Anbindung an die ICE-Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover–Berlin und gute Interregio-Verbindungen zu den Ballungszentren sowie eine weitgehend instandgesetzte Altstadt sind durchaus Pfunde, mit denen die Stadt wuchern kann.

Dennoch: In den zehn Jahren seit der Wende hat die Stadt fast ein Viertel ihrer Einwohner verloren. Von fast 50.000 schrumpfte die Bevölkerungszahl auf heute noch 39.000. Gründe hierfür gibt es zahlreiche. Tausende waren nach Stendal gezogen, um auf der Großbaustelle für ein neues Atomkraftwerk zu arbeiten. Als der Bau nach der Wiedervereinigung eingestellt wurde, verloren sie von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit. Hinzu trat der Verlust von Arbeitsplätzen in den abgewickelten staatlichen "volkseigenen" Betrieben. Manch einer zog auch aus der Stadt hinaus in eine der Umlandgemeinden.

Eine weitere Ursache für den dramatischen Einwohnerschwund ist nicht zuletzt die erschreckend niedrige Geburtenrate. Nach 1990 war sie in den neuen Ländern um teilweise über 60 Prozent gefallen. Seit Ende der neunziger Jahre steigen die Geburten auch in Stendal langsam wieder an. Doch noch immer liegen die Zahlen um gut 40 Prozent unter dem Ergebnis von 1990.

Erst gingen die Arbeitsplätze verloren, dann die Menschen. Die Auswirkungen haben jetzt die Schulen erreicht. Nachdem zuvor schon Kindergärten und Betreuungseinrichtungen nicht mehr benötigt und geschlossen wurden, mußte die Stadt nun drei Grundschulen zu "Auslaufschulen" erklären. Eingeschult wird hier nicht mehr. Nach Abgang der letzten Schüler in weiterführende Schuleinrichtungen werden sie wohl für immer zugemacht werden.

Die Folgen dieses Schrumpfprozesses stellen Stendal und zahlreiche weitere Städte in den neuen Ländern vor große Herausforderungen. Durch den riesigen Überhang an Wohnungen brach in kürzester Zeit der gesamte Wohnungsmarkt zusammen. Kaltmietpreise von etwa fünf Mark pro Quadratmeter sind keine Seltenheit, so daß die Kosten für Rücklagen und notwendige Instandhaltungsmaßnahmen nicht mehr durch die Mieteinnahmen abgedeckt werden können. Höhere Mieten sind am Markt aber nicht mehr durchzusetzen. Der Besitz einer Wohnimmobilie, die zur Vermietung ansteht, ist für Eigentümer zu einem Negativgeschäft und damit zum Risiko geworden. In die Instandhaltung, Sanierung oder den Neubau wird aus Rentabilitätsgründen zunehmend weniger investiert. Stünden nicht öffentliche Mittel zur Bauförderung zur Verfügung, sähe es noch viel schlechter aus.

Die Auswirkungen treffen die lokalen kleinen und mittelständischen Handwerksbetriebe. Ihnen drohen die Erwerbsmöglichkeiten wegzubrechen. Weitere Arbeitsplätze könnten verloren gehen. Die Folge wäre eine weitere Schrumpfung, möglicherweise bis zum Kollaps.

Haupteigentümer der Plattenbauten sind in Stendal drei Wohnbaugesellschaften. Zusammen mit der Stadt wollen die Unternehmen die drohende Katastrophe noch abwenden. Durch gezielten Rückbau – insgesamt geht es um mehr als 3.000 Wohnungen in zwei Plattenbausiedlungen – soll ein vernünftiges Verhältnis von Angebot und Nachfrage wiederhergestellt werden. Die Stadt sieht in der Abrißsanierung aber auch Chancen: "Wir sehen dies als Herausforderung für die Stadtentwicklung", sagt Jörg Daniel. Für die Stadt Stendal ist es mit Sicherheit ein Experiment.


 
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