© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/99 17. September 1999


Pankraz,
T. Wolfe und der Charme der stoischen Option

Recht interessant findet Pankraz den neuen Roman von Tom Wolfe, "Ein ganzer Kerl" (Kindler-Verlag). Es ist eine Riesenschwarte im Stil von "Vom Winde verweht", ein sogenanntes Südstaatenepos, mit zeitgenössischem Personal: Baulöwen, Börsenspekulanten, Glücksrittern, Neureichen jeglicher Couleur. Man kann heute, so die Botschaft, als "ganzer Kerl" im "Turbokapitalismus" eine Menge Geld verdienen, doch am Ende siegen doch die großen anonymen Finanzzusammenballungen, und man muß schon froh sein, wenn man von denen nicht vollständig ausgenommen und plattgewälzt wird.

Besonders apart nun aber: Wenn die "ganzen Kerle", die auf eigene Rechnung Kapitalismus machen, in Schwierigkeiten kommen, dann fangen sie bei Tom Wolfe an, regelrecht zu philosophieren, studieren plötzlich mit Eifer alte Pandekten, vorzugsweise den Stoizismus, jene Lehre, die dereinst so kräftig im alten Rom geblüht hat. Der Roman ist ein richtiges Lehrbuch über altrömischen Stoizismus. Direkt neben Sittenbildern aus den Südstaaten von 1999, neben Wachteljagd und Klapperschlangenärger, finden sich Diskurse über Cicero und Seneca, Epiktet und Marc Aurel. Das verleiht dem ganzen einen Charme, den man in dieser Ecke zu allerletzt vermutet hätte.

Wie einst die gebildeten Römer sehen die "ganzen Kerle" bei Tom Wolfe, wenn sie zu philosophieren anfangen (und sie tun das, wie gesagt, sehr oft), aus ihrem Lebensgefühl heraus zunächst nur zwei Alternativen, eine für gute und eine für schlechte Zeiten: entweder Hedonismus oder Zynismus, entweder "Genieße dein Leben!" oder "Häng dich an nichts und laß dir alles egal sein!" Aber das genügt ihnen nicht, und so entdecken sie die stoische Option, die berühmte "Ataraxia", die da lehrte: "Laß dich durch nichts erschüttern, behalt den Hut auf, was auch passieren mag!" Und diese Ataraxia, diese "Gelassenheit", verleiht ihnen Kraft und Lebensstolz und sogar moralische Einsicht.

Sie machen sich klar: Im Gegensatz zu den Zynikern predigt die stoische Ataraxia nicht flache Gleichgültigkeit gegenüber den schönen Dingen des Lebens, man soll ruhig eine möglichst einflußreiche Stellung in der Gesellschaft anstreben und verteidigen, soll ruhig auch zu Geld zu kommen suchen. Nur, man soll immer, auch schon im Zustand des höchsten Erfolgs, markieren, daß all dies nicht das Eigentliche ist, man soll, wie es Brecht ausgedrückt hatte, stets "neben" seinen Taten und Leiden stehen.

Die Ataraxia ist nicht Schicksalsergebenheit, nicht Kismet, wie bei den Muslimen, man darf und soll dem Schicksal unter Umständen sehr wohl in die Speichen greifen. Doch angesichts aussichtsloser Lagen gilt es, stoischen Mut zu beweisen, notfalls auch Todesmut, den Halunken, die einen quälen und zum Schaffot schleifen, nicht das Schauspiel feigen Jammerns und Bermens zu liefern. Am besten ist es in solcher Lage, von sich aus Schluß zu machen, sich ins Schwert zu stürtzen wie Nero oder Varus, sich im heißen Bad die Pulsadern aufzuschneiden und langsam zu verbluten, wie Seneca oder Petronius.

Aber die Ataraxia lehrt auch, im Gegensatz zu Hedonismus und Zynismus, Respekt vor der Gesellschaft und vor dem Staat. Der Staat mit seinen Gesetzen hält die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft ja immerhin zu Pflichten an: und in der gemeinsamen Pflichterfüllung (und nirgendwo sonst), indem man sich gemeinsam unter ein Gesetz stellt, erscheint die "Würde", selbst wenn das Gesetz nicht optimal ist, vielleicht gar auf Dauer zu schlechten Zuständen führt. Dann soll man das Gesetz natürlich ändern, aber zunächst hat man ihm Achtung zu erweisen.

Schon in der "Form" des Gesetzes, die ein Zeichen der Pflicht, des Sich-am-Riemen-Reißens ist, liegt die Würde, zumal da faktisch kein Staat wagt, frech und sprachunempfindlich bewußt schlechte Gesetze zu erlassen. Noch die schlimmste Tyrannei versucht, in ihrer Gesetzgebung das Dekor zu wahren, süße Gesetzestexte zu formulieren, die wenigstens äußerlich Ordnung und Gemeinsinn vorgaukeln. Auf die kann man sich berufen.

Freilich, neben dem Gesetz, dem, was rechtens ist, dem "rectum", postuliert die Ataraxia ausdrücklich auch das, was ehrenhaft ist, das "honestum". "Ehre", hatte früher Aristoteles geschrieben, "ist der Preis der Rechtschaffenheit". Die Stoiker sahen das differenzierter. Sie merkten, daß oft ein Gegensatz entsteht zwischen dem Rechtschaffen-Sein und dem Rechtschaffenheit-Vorzeigen und daß ein Leben darüber zerbrechen kann.

Jeder Rechtschaffene kann in Situationen geraten, wo er sich an sich moralisch nichts vorzuwerfen hat, wo er aber dennoch in einer Beleuchtung erscheint, die den Anschein von Verfehlung oder von Feigheit erweckt. Dann gerät die Ehre in Gefahr, die eine Art Vorhof der Rechtschaffenheit ist. Diesen Vorhof gilt es nach Auffassung der Stoiker genauso sauber zu halten wie das Gebäude der Rechtschaffenheit selbst. Man muß immer scharf abwägen zwischen aktuellem Gesetz und sauberem Ehrenschild. Denn wer seine Ehre nicht wahrt, ist nie ein "ganzer Kerl".

So also klingt es aus dem neuen Roman von Tom Wolfe, und dies Geräusch dementiert doch ziemlich deutlich das von diesem Autor in der Öffentlichkeit so aufdringlich bekundete "vorbehaltlose Einverstandensein" mit der modernen Geldmacherei, ihrem Zynismus und ihrer Skrupellosigkeit. Man gewinnt den Eindruck, daß hier vielmehr ein Südstaaten-Gentleman von der alten, ja, von der uralten Schule den Koofmich-Südstaatlern von heute wütend die Leviten liest – um des eigenen Überlebens willen.

Unter der Schminke des New Yorker Dandys kommt der Rhett Butler zum Vorschein – ein Aristokrat, der bis auf die Stoiker zurückgreifen muß, um nicht an Gegenwarts-Verachtung zu ersticken. Der Leser reibt sich die Augen: Marc Aurel unter Klapperschlangen.


 
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