© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/99 17. September 1999


Südtirol: Vor 80 Jahren wurde im Vertrag von Saint Germain das Land Tirol geteilt
Belohnung für Kriegseintritt
Jakob Kaufmann

Am vergangenen Freitag wurde in Südtirol der Teilung des Landes vor achtzig Jahren gedacht. Am 10. September 1919 hatte der Staatskanzler der jungen österreichischen Republik, Karl Renner, wider Willen den Vertrag von Saint Germain unterzeichnet. Darin wurde der Teil Tirols südlich des Brenners Italien zugeschlagen. Vier Tage vor der Unterzeichnung hatte die Nationalversammlung in Wien den Friedensbedingungen zugestimmt: 97 Abgeordnete gaben ihre Stimme für den Vertrag ab, 23 votierten dagegen. Die Abgeordneten, die für die Annahme des Vertrags stimmten, sahen sich zu diesem Schritt gezwungen: Das Land stand unter alliierter Besatzung, und die Wiener Bevölkerung hungerte und war dringend auf Hilfslieferungen angewiesen.

Bei den Verhandlungen nahe Paris hatten die Entente-Mächte der österreichischen Delegation die Friedensbedingungen diktiert: Diese bestimmten den Verzicht Österreichs auf Südtirol ohne Autonomiebestimmungen und ohne Minderheitenschutz. Die alten österreichischen Gebiete Trentino, Triest und Tirol südlich des Brenner waren die Belohnung für Italiens Kriegseintritt gegen die Mittelmächte. Der italienische Botschafter in London hatte dies im Auftrag seines Ministers Giorgio Sonnino im Londoner "Geheimvertrag" vom 26. April 1915 ausgehandelt. Am 23. Mai 1915 erklärte Italien daraufhin Österreich den Krieg.

Bei den Nachkriegsverhandlungen in Saint Germain konnte die österreichische Delegation die Teilung Tirols trotz aller Bemühungen nicht abwenden. Der sozialdemokratische Außenminister Otto Bauer trat deswegen zurück. Die österreichischen Sozialdemokraten forderten damals die Einheit Tirols und gleichzeitig den Anschluß Österreichs an Deutschland. Sie hielten das neue österreichische Staatsgebilde für nicht lebensfähig. Beide Ziele waren jedoch miteinander unvereinbar. In der Tiroler Landesversammlung konnten sich Sozialdemokraten und Bürgerliche lange auf keine Erklärung zur Landeseinheit einigen. Erst am 3. Mai beschloß die Landesversammlung, Tirol als "neutralen Freistaat auszurufen, falls nur dadurch die Einheit dieses Gebietes erhalten bleibt". Diese Erklärung kam aber bereits zu spät.

In Südtirol hatten sich alle Parteien und Bevölkerungsschichten seit dem 4. November 1918, dem Tag des Waffenstillstandes, vehement gegen die Teilung des Landes gewehrt. Es konstituierte sich sofort ein Deutschsüdtiroler Nationalrat unter der Führung des Bozener Bürgermeisters Julius Perathoner. Nach dem Waffenstillstand besetzten italienische Truppen das Land. Tirol südlich des Brenners wurde einem Militärgouverneur unterstellt. Jeglicher Kontakt der Bewohner nach Innsbruck, Wien oder Berlin wurde unterbunden. Tirol nördlich des Brenner hielt Italien bis zur offiziellen Annexion Südtirols am 10. Oktober 1920 militärisch besetzt.

Die einzigen funktionierenden politischen Vertretungen waren die Gemeindeverwaltungen. Alle 213 Deutschtiroler und 20 Ladinischtiroler Gemeinden richteten unverzüglich einen eindringlichen Appell an die Friedenskonferenz in Paris. Die Italiener verhinderten jedoch in Südtirol die Durchführung der Wahlen zur Deutschösterreichischen Nationalversammlung. So beschloß das Parlament, das Mandat der 1912 gewählten Südtiroler Abgeordneten zum österreichischen Reichsrat zu verlängern. Damit sollte die parlamentarische Vertretung des südlichen Teils Tirols sichergestellt werden. Der Christlichsoziale Eduard Reut-Nicolussi hielt nach der Zerreißung Tirols seine berühmte Abschiedsrede im Wiener Parlament. Darin bemerkte er, daß der Tag bald kommen möge, an dem ein anderer Südtiroler Abgeordneter an derselben Stelle die Rückkehr des Landes zu Österreich verkünden könne.

Vergangene Woche erinnerte nun der Süditroler Landeshauptmann Luis Durnwald (SVP) an die historische Niederlage Österreichs: "Gegen den Willen des gesamten Tiroler Volkes wurde eine Staatsgrenze gezogen, ein willkürlicher Akt, der auch heute nach 80 Jahren als klares Unrecht bezeichnet werden muß." Das Ziel, die Grenze durch Tirol in friedlicher Weise zu überwinden, sei weitgehend erreicht. "80 Jahre nach der Trennung sind die Grenzen nicht mehr spürbar", erklärte Durnwalder. Er bezeichnete die Zusammenarbeit der Tiroler Landesteile in der Euregio als "geradezu verpflichtend". Der Obmann der Südtiroler Volkspartei (SVP), Siegfried Brugger, äußerte sich ebenso optimistisch: Heute stehe die Grenze von 1919 "fast nur mehr auf dem Papier."

Dem widersprachen die freiheitlichen Landesparteiobmänner von Nord- und Südtirol, die Landtagsabgeordneten Franz Linser und Pius Leitner. Sie sehen das Ziel der Landeseinheit noch in weiter Ferne und kritisierten, daß die Landeshauptleute der drei historischen Teile Tirols die Bezeichnung "Europaregion Tirol" in "Euroapregion Tirol, Südtirol, Trentino" umbenannt haben.

Der Landtagsabgeordnete Franz Pahl, der zum rechten SVP-Flügel gezählt wird, ergänzte, "die Unrechtsgrenze" könne nicht mit dem Verweis auf die Entwicklung in der EU bagatellisiert werden. Die Grenze sei "nach wie vor eine politische Realität und sehr deutlich fühlbar". Seine Partei halte am Selbstbestimmungsrecht fest. Die "ohnehin immer wieder gefährdete Südtirolautonomie" sei keine definitive Lösung.

Dem mochte auch die Union für Südtirol (UfS) nicht widersprechen. Sie forderte erneut das Recht auf Selbstbestimmung auch für Südtirol. Anders die Alleanza Nazionale (AN), die zusammen mit anderen post- oder neofaschistischen Parteien etwa 40 Prozent der Italiener in Südtirol vertritt. Sie kritisierte Durnwalder wegen seiner Äußerung, die Brennergrenze könne überwunden werden. Seine Worte seien "inakzeptabel und beschämend" und machten deutlich, daß es der SVP immer noch um die Abkoppelung des Landes gehe.


 
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