© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/99 17. September 1999


Die neue Rente
von Klaus Gröbig

n einer vorangegangenen langen wirtschaftlichen Schönwetterperiode haben Rentner wie Versicherte neue Leistungen und steigende Renten erhalten. Dabei ist vergessen worden, daß die Entwicklung der Rentenversicherung auch in der Vergangenheit oft stürmisch und überraschend verlaufen ist.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde sich in Deutschland der Staat angesichts des Massenelends der Arbeiter und sozialer Unruhen seiner Verantwortung für die materielle Not der arbeitenden Menschen bewußt. Der erste entscheidende Schritt zur Schaffung der deutschen Sozialversicherung wurde am 17.11.1881 mit der Verlesung der von Bismarck verfaßten kaiserlichen Botschaft gemacht. Das erklärte Ziel der Gesetzgebung war die Heilung sozialer Schäden auf dem Wege der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter. Die gesetzliche Rentenversicherung steht ständig in einem Spannungsfeld, das ergibt sich aus den Zielen dieses Zweiges der sozialen Sicherung. Die erste Bewährungsprobe war der Erste Weltkrieg mit seinen Folgen, insbesondere der Inflation. Folgenschwerer war jedoch der erneute Zusammenbruch nach dem Zweiten Weltkrieg. Man begann buchstäblich wieder bei Null. Zusätzliche Schwierigkeiten brachte die Währungsreform, weil die Vermögen 1 zu 10, die Rentenzahlungen 1 zu 1 umgestellt wurde.

Dies alles zeigt, daß das System der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland selbst schwerste Krisen überstanden und unser Land vor sozialen Verwerfungen, wie sie in den USA und Großbritannien bekannt sind, bewahrt hat. Trotzdem ist die Kritik an der Rentenversicherung so alt wie diese selbst. Geschadet hat es der Rentenversicherung indessen nicht. Das System der dynamischen Rente folgte allerdings immer einem ungeschriebenen Gesetz, nämlich daß sich die Bevölkerungszahl zumindestens von Generation zu Generation reproduziert. Konsum, Selbstverwirklichung und Hedonismus haben indessen dazu geführt, daß die Bevölkerung schrumpft, weil statistisch nur noch rund 1,3 Kinder pro Frau geboren werden. Zudem wird die Bevölkerung immer älter, damit nimmt auch die Zahl der potentiellen Rentner dramatisch zu – in dem gleichen Maße, wie die der Beitragszahler stetig abnimmt. Was zwei verlorene Weltkriege nicht vermochten, scheint so doch noch möglich zu werden: die Zerstörung der gesetzlichen Rentenversicherung und damit die Aufkündigung des sozialen Friedens in Deutschland.

Ein Reformansatz zur Sanierung der Rentenversicherung muß daher zwingend dieser Entwicklung Rechnung tragen. Insofern war der Ansatz der früheren Bundesregierung mit der Berücksichtigung des "demographischen Faktors" der richtige Ansatz, während die jetzige Bundesregierung lediglich mehr oder weniger ausgewogene Einsparungen vornehmen will, ohne die eigentlichen Ursachen der Krise zu bekämpfen.

Es war die liberale Sozialexpertin Gisela Babel, die in den Koalitionsgesprächen den "demographischen Faktor" gegen Blüms CDU durchgesetzt hat. So ist die Politik der beiden großen Volksparteien in der Rentenversicherung, wenn nicht deckungsgleich, so doch sehr ähnlich. Sie setzen beide das Thema Rente erst dann auf die politische Tagesordnung, wenn es gar nicht mehr anders geht.

Die Rentenversicherung befindet sich jetzt in einer gefährlichen Existenzkrise. Die Rentner ängstigen sich um ihre Rente und die Versicherten um ihre späteren Renten und die Höhe der Beitragslast. Die harten Wortgefechte um das Schicksal der Altersversorgung in den letzten Monaten trafen die Rentner in ihrem Gefühl der Sicherheit ihrer Grundexistenz.

l Fundament der Alterssicherung ist und bleibt die gesetzliche Rentenversicherung in ihrer traditionellen und bewährten Form. Sie ist Ausdruck der gemeinschaftlichen Verantwortung unseres Staates über Generationsgrenzen hinweg. Sie trägt dazu bei, den liberalen Grundwert im Bewußtsein und täglichen Erleben zu stabilisieren, der besagt: "Jeder Mensch ist für sich selber verantwortlich." Je mehr er zu dieser Verantwortung für sich selbst fähig ist, desto größer ist seine Verantwortung für die anderen.

l Aufrechterhaltung und Zukunftssicherung dieses weltweit anerkannten und bewunderten Versicherungssystems sind nur möglich, wenn dieses sich den Wandlungen der Zeit anpaßt. Im Sinne von Friedrich Naumanns Ausspruch: "Wenn die Dinge dieselben bleiben sollen, müssen sie sich ändern."

l Die liberale Gestaltungskraft setzt darauf, dazu beizutragen, Freiraum zur persönlichen Lebensplanung, das heißt in diesem Fall zur persönlichen Altersvorsorge, zu schaffen. Dieser Freiraum muß oberhalb des Fundamentes aktiv angesiedelt sein. Der Kern der Altersvorsorge muß frei bleiben von lang- und mittelfristigen Risiken internationaler Finanzmärkte. Die Rentenversicherung darf den Marktanteilzielen der weltweit tätigen privaten Versicherungskonzerne nicht ausgeliefert werden.

Das System der sozialen Sicherung in Deutschland hat sich bewährt. Es ist den Erfordernissen der jeweiligen Zeit anzupassen. Einheitsrenten nach schwedischem Vorbild sind Mogelpackungen, die weder die konkreten Probleme lösen helfen noch mit dem Eigentumsvorbehalt des Grundgesetzes vereinbar sind. Sie sind nivellierend und leistungsfeindlich. Einheitsrenten, Grundsicherung und dergleichen sind der hilflose Versuch, sich aus der Verantwortungsgemeinschaft mit der älteren Generation zu verabschieden. Es muß daher bei der lohn- und beitragsbezogenen Rente bleiben!

Die gesetzliche Rentenversicherung ist in der jetzigen Form nicht finanzierbar. Korrekturen sind daher sowohl im Leistungsbereich als auch auf der Einnahmeseite unausweischlich. Es ist sicher, daß sowohl der jetzige Beitragssatz als auch das heute erreichte Rentenniveau nicht wesentlich verändert werden können. Beitragserhöhungen sind von der Wirtschaft und den Arbeitnehmern nicht mehr zu verkraften. Die Renten können, da sie zur Sicherung des Lebensunterhaltes der Versicherten im Alter dienen sollen, nicht wesentlich eingeschränkt werden. Es sind daher Maßnahmen notwendig, Beitragserhöhungen von denjenigen Arbeitnehmern zu fordern, deren Lebensführung es mit sich brachte, daß sie – aus welchem Grunde auch immer – kinderlos geblieben sind.

Die Reformblockade aller Regierungen seit Adenauer ist die Ursache der aktuellen und künftigen Probleme. Es wurde versäumt, notwendige Reformen zur Strukturanpassung an die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen rechtzeitig durchzuführen. Nunmehr werden die Korrekturen um so schmerzhafter sein. Dazu einige Thesen:

Für die Aufrechterhaltung des Sozialsystems werden in Deutschland zu wenig Kinder geboren und deshalb weniger künftige Beitragszahler zur Verfügung stehen, als notwendig sind. Behauptungen, die dies abstreiten, versuchen die demographische Entwicklungen zu leugnen. Bereits Ende der siebziger Jahre warnte Otto Graf Lambsdorff zu Recht: "Die Geburtenrate ist eine Schicksalsfrage des ganzen Volkes." Der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung ist deshalb an die Zahl der Kinder zu koppeln. Diese Koppelung erfolgt in Prozentschritten, wobei sich bei Eltern von zwei Kindern nichts ändert. Wer in den Genuß einer Leistung der gesetzlichen Rentenversicherung kommen will, ohne selbst Kinder zu haben, muß künftig einen höheren Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichten. Bereits 1992 forderte die damalige stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Uta Würfel: "Kinderlose müssen bei den Rentenbeiträgen stärker belastet werden." Das könne größere Rentengerechtigkeit schaffen. Es kann nicht sein, daß diejenigen, die durch die Erziehung von Kindern die Renten der nächsten Generationen sicherstellen, den gleichen Rentenbeitrag zahlen wie Kinderlose.

Die Möglichkeiten der Frühverrentung haben inzwischen den Charakter eines staatlichen Reparaturbetriebes bekommen. Die Abwälzung von Sozialkosten in Großkonzernen durch Vorruhestandsregelungen auf die gesetzliche Rentenversicherung sind nicht länger hinnehmbar. Die Frühverrentungen sind grundsätzlich abzuschaffen. Für Frauen soll auch künftig die Möglichkeit bestehen, unter Inkaufnahme eines versicherungsmathematischen Abschlages mit Vollendung des 60. Lebensjahres Altersrente zu beziehen. Eine Heraufsetzung des Rentenalters auf das 67. Lebensjahr ist zu einer grundlegenden Sanierung der Rentenversicherung nicht zu umgehen.

Die Übernahme von versicherungsfremden Leistungen durch die Rentenversicherung, ohne deren Deckung durch direkte finanzielle Zuweisungen des Staates, ist eine Enteignung der Beitragszahler in Gegenwart und Zukunft. Versicherungsfremde Leistungen sind daher für die gesetzliche Rentenversicherung kostenneutral zu gestalten. Solche Leistungen können nur noch dann von der Rentenversicherung übernommen werden, wenn ihnen entsprechende Einnahmen gegenüberstehen. Die Liste der Beispiele für versicherungsfremde Leistungen ist lang und vielfältig. Beispielsweise ist es nicht einsehbar, daß Studenten und Oberschüler dafür Anrechnungszeiten gutgeschrieben erhalten, wenn sie ein Studium oder höhere Schulabschlüsse absolvieren, die obendrein noch von der Allgemeinheit aus Steuermitteln finanziert werden, während ihre Altersgenossen schon in die Rentenversicherung einzahlen müssen. Auch die Zahlung einer erhöhten Rente an Mitarbeiter der SED und der Blockparteien ist nicht zu rechtfertigen. Der Bund hat für versicherungserhebliche Zeiten, die in der gesetzlichen Rentenversicherung angerechnet werden sollen, wie etwa der Ausbildungszeiten von Studenten, Beiträge an den Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten.

Die knappschaftliche Rentenversicherung ist aufzulösen. Ihre Leistungen entsprechen künftig denen der anderen Rentenversicherungszweige. Für bisher entrichtete Beiträge von Bergarbeitern unter Tage und gezahlte Renten besteht Bestandsschutz.

Das Hinterbliebenenrecht ist dahingehend zu reformieren, daß Hinterbliebene, die nicht den überwiegenden Anteil des Familieneinkommens bestritten haben, ohne Einkommensanrechnung eine Hinterbliebenenrente erhalten. Hierdurch wird nicht nur eine wesentliche Vereinfachung der Bürokratie erreicht wegen der dann wegfallenden halbjährlichen Vermögenskontrolle der Witwen und Waisen, sondern es wird auch das Versicherungsprinzip gestärkt, das durch die letzte Reform des Hinterbliebenenrentenrechts abhanden gekommen ist. Die jetzige Regelung stellt eine Gleichmacherei dar und ist aus liberaler Sicht abzulehnen.

Bei dieser längst fälligen Reform an Haupt und Gliedern ist die Verwaltungstätigkeit der Rentenversicherungsträger selbst zu entbürokratisieren und damit kostengünstiger zu gestalten. Zwar machen die Verwaltungskosten bei den Rentenversicherungsträgern nur einen verschwindend geringen Teil des Gesundheitshaushalts aus, doch ist in den Zeiten knapper Kassen auch hier nach Einsparmöglichkeiten zu suchen.

Die Landesversicherungsanstalten sind aufzulösen. Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, daß ein zentraler Versicherungsträger in der Verwaltungstätigkeit leistungsfähiger und kostengünstiger ist. Desgleichen sollen die weiteren Sonderversicherungsanstalten wie Bundesknappschaft, Bundesbahnversicherungsanstalt, Künstlersozialkasse u. a. aufgelöst werden. Der ständige Zuständigkeitswechsel bei Wohnort- oder Berufswechsel fiele dann weg. Die regionale Betreuung der Versicherten erfolgt wie bisher in Auskunfts- und Beratungsstellen, die zu diesem Zwecke zu erweitern sind. Die Zusammenlegung der Versicherungsträger unter einem Dach ist damit nicht nur kostensparend, sondern auch bürgerfreundlicher.

Eine Auflösung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte kommt nicht in Frage. Einen Nutzen hiervon hätten nämlich nur die Landessozialminister, die ihre politischen Gefolgsleute auf einflußreiche Direktorenposten setzen könnten: Angestellte, bei denen bei einem Wohnortwechsel die BfA heute weiter zuständig bliebe, müßten dann den Wechsel des Versicherungsträgers in Kauf nehmen.

Die Verwaltungstätigkeit des zentralen Rentenversicherungsträgers ist weitgehend zu privatisieren. Im Wege von Ausschreibungen werden die reinen Bürotätigkeiten privaten Firmen übertragen. Die Behörde selbst bleibt auf hoheitliche und beratende Aufgaben beschränkt.

Eine jährliche Veränderung der Beitragshöhe in der gesetzlichen Rentenversicherung führt zur Unsicherheit in der mittel- und langfristigen Planung. Deshalb muß eine Reserve von zwei Jahresausgaben angesammelt werden.

Die Durchführung der jetzt notwendigen Reform darf nicht wieder mit heißer Nadel gestrickt werden. Für die Anpassung der Renten muß eine Formel gefunden werden, die das Auseinanderklaffen von Renten und Arbeitseinkommen auf absehbare Zeit verhindert, so daß nicht alle zwei bis drei Jahre eine neue Reform notwendig wird. Die bewährte Selbstverwaltung der Rentenversicherung ist unbedingt beizuhalten. Der Rentenversicherung hat es in der Vergangenheit immer gut getan, daß Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter in den Organen der Selbstverwaltung mitgewirkt haben.

 

Klaus Gröbig, 42, ist in Berlin-Tempelhof Bezirksvorsitzender der FDP und Spitzenkandidat für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus am 10. Oktober.


 
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