© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/99 24. September 1999


Kolumne
Souverän
von Ulrich Schacht

Man muß Gerhard Schröder nicht lieben; aber es gibt Grund, das Land und die SPD zu diesem Bundeskanzler zu beglückwünschen. Doch was nach den verlorenen Landtags- und Kommunalwahlen für Teile der SPD wie Hohn klingen dürfte, für einen gewissen Prozentsatz der Wähler gar wie blanker Zynismus, ist tatsächlich nur der Einsicht geschuldet, daß sich die Wahrheit notwendiger Prozesse in der Polis eher widersprüchlich zeigt als in Gestalt reiner Konturen.

Gerhard Schröder, heißt das, ist der deutsche Kanzler seit langem, der die ihm verfassungsmäßig zustehende Richtlinienkompetenz bei politischen Entscheidungen, die er für staatsnotwendig hält, schlicht anwendet – gegen innerparteilichen wie gesellschaftlich-medialen Druck – und sein Verhalten ebenso offen wie öffentlich verteidigt. Das ist der Fortschritt, und das unterscheidet ihn substantiell nicht nur von seinem Vorgänger im Amt.

Vor allem trennt es ihn vom Gesellschaftsliebling und Verantwortungsflüchtling Lafontaine, der nie anderes zu bieten hatte als das kalte Feuer der Demagogie und die Sachkompetenz eines Zeitgeist-Ideologen, der schon mal Helmut Schmidt in die Nähe potentieller KZ-Betreiber rückte, im Mauermörder Honecker dafür einen Landsmann der würdigeren Sorte sah. Daß er aus Deutschland am liebsten eine französische Provinz gemacht sähe, hat ihm beim Establishment des "westdeutschen Sonderbewußtseins" Maximal-Beifall eingebracht. Daß in diesem Zusammenhang ausgerechnet Lafontaine als traditionsbewußt und Schröder als wurzelloser Modernist gilt, zeigt nur, wie weit außerhalb jedes historischen Faktenwissens diese spezielle Debatte verläuft. Denn mit Gerhard Schröder als SPD-Chef und Kanzler Deutschlands scheint Deutschlands Sozialdemokratie endlich wieder dort anzuknüpfen, wo sie seit Lassalles Tagen ihre würdigste Tradition begründet hat: Dem Nationalstaat der Deutschen als zivilisiertem Rahmen ihrer gesellschaftlichen wie sozialen Sicherheit und Entwicklung zu dienen.

Ob Ebert, Schumacher, Brandt oder Schmidt – sie alle waren in der Tiefe ihrer politischen Existenz nie unkritische, aber zuverlässige Verteidiger eines selbstbewußten deutschen Nationalstaats und damit Gegner eines hündischen oder aggressiven Deutschlands.

"Selbstbewußtsein" ist für Schröder inzwischen das politische Leit- und Signalwort, und auch Minister wie Scharping, Eichel oder Naumann entsprechen zunehmend dem politisch-moralischen Anspruch, der sich mit diesem Begriff verbindet. Auch deshalb war Schröders Wahl kein Irrtum. Der Wähler wird es bald wieder begreifen.

 

Ulrich Schacht war Chefreporter Kultur der "Welt am Sonntag". Heute lebt er als Schriftsteller und politischer Essayist in Schweden.


 
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