© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/99 24. September 1999


Abtreibung: Der Kirchenrechtler Professor Andreas Weiß über den Konflikt um Schwangerenberatung und den Schein
Diplomatische Weisung aus dem Vatikan
Karl-Peter Gerigk

Herr Professor Weiß, der Kölner Kardinal Meisner und andere konservative Bischöfe stellen den von Karl Lehmann ausgehandelten Kompromiß zur Schwangerenberatung als unzureichend in Frage. Welche juristische Wirkung hat der Zusatz?

Weiß: Im Sinn des staatlichen Rechtes hat dieser Zusatz keinerlei Auswirkungen. Von staatlicher Seite wird lediglich die Bestätigung der Beratung verlangt, die aus der Bescheinigung hervorgehen muß. Jedoch können die Institutionen, die eine Beratung durchführen, nicht gezwungen werden, solch eine Bescheinigung auszustellen.

Gibt es denn im Kirchenrecht eine eindeutige Haltung in dieser Frage? Es gilt doch das Gebot "Du sollst nicht morden"?

Weiß: Das ist ganz klar ein göttliches Gebot, zu dem die Kirche unzweideutig Position zu beziehen hat. Dies hat sie getan und tut sie auch noch heute. Aber es genügt nicht, nur das Gebot als solches hochzuhalten, sondern man muß sich in Wort und Tat dafür einsetzen. Wir sollten in diesem Zusammenhang das Axiom betonen, daß die Taten mehr sprechen als die Worte. Das haben die Bischöfe begriffen, sie haben eine Vielzahl an Initiativen gestartet, die das Leben schützen und den Frauen und Familien konkret unter die Arme greifen.

Welche Stellung hat das göttliche Gebot im Sinne des Kirchenrechtes und Staatsrechtes? In welchem Raum gilt es und für wen?

Weiß: Diese Gebot steht überhaupt nicht zu Diskussion. Es ist für die Menschen nicht veränderbar, und es stellt die Grundlage allen Bemühens der Kirchen dar. Es gilt für alle Menschen uneingeschränkt, und dies natürlich über alle territorialen Grenzen hinweg.

Kommen die Frauen durch den Zusatz nicht psychisch in eine schwierige Lage, wenn sie nach der Beratung trotzdem abtreiben?

Weiß: Das würde ich nicht sagen. Zweifelsohne ist die Lage der Frauen sehr schwierig, das will ich gar nicht schönreden. Doch die Lage der Frauen ist nicht schwierig durch den Zusatz, der vom Papst verlangt wurde, sondern durch die Ausweglosigkeit, in der sich die Frauen befinden.

Was bewirkt der Zusatz strafrechtlich?

Weiß: Strafrechtlich ist der Zusatz unwirksam. Viele Frauenärzte haben sich gefragt, ob sie bei einer Abtreibung mit dem neuen Schein nicht schon mit einem Bein im Gefängnis stehen. Hier wird viel propagandistisch ausgeschlachtet. Ich will ausdrücklich betonen, daß der Zusatz in strafrechtlicher Sicht keinerlei Wirkung hat. Für die Frauen und die Ärzte und alle Beteiligten, hat eine Abtreibung keine strafrechtliche Konsequenzen, nur weil der Beratungsschein mit dem vom Papst verlangten Zusatz versehen war.

In der Diskussion fällt immer das Wort "staatskirchenrechtlich". Was ist damit gemeint?

Weiß: "Staatskirchenrechtlich" bedeutet, daß hier zwei Sphären existieren, die zusammenhängen und doch im Prinzip voneinander unabhängig sind. Man kann anhand des Zusatzes deutlich machen, wie diese Sphären zusammenhängen, aber doch auseinandergehalten werden müssen. Wie der Staat den Zusatz auf dem Beratungsschein bewertet, ist seine Sache und die seines Rechts. Die Kirche hat diese Frage, also wie sich der Staat verhalten wird oder könnte, zu bedenken, bevor sie ihre Entscheidung trifft. Das hat sie, beziehungsweise haben die Bischöfe in ihren Beratungen sicher getan. Demgegenüber kann die Auffassung des Staates auf die Haltung der Kirche keine Rückwirkung haben. Denn wie sie zur Abtreibung steht und was sie nach der erfolgten Beratung von ihrem Selbstverständnis auf dem Schein zur Sprache bringt, ist ihre Sache und nicht die des Staates. Dies bleibt allein die Entscheidung der Kirche. Die Kirche hat 2ihre Position mit dem Zusatz verdeutlicht. Sie kann dem Staat jedoch nicht vorschreiben, wie dieser den Zusatz bewertet. Dabei kann auch der Staat nicht entscheiden wozu dieser Schein schließlich verwendet wird. Dies bleibt die Entscheidung der Betroffenen, letztendlich der Frau. Die Bezeichnung des Scheines als "Tötungslizenz" ist äußerst schwierig. Der Schein gibt niemals die Erlaubnis zum Töten. Dies kann auch nicht hineininterpretiert werden, auch wenn er zur Vornahme einer Abtreibung zweckentfremdet wird. Bei dem Schein kommt das Gesamtkonzept der Beratung zur Sprache, was in der Diskussion kaum beachtet wird. Da steht im Mittelpunkt der Mißbrauch.

Der Schein eröffnet also doch die Möglichkeit zur straffreien Abtreibung?

Weiß: Er ist eine notwendige Bedingung seitens des staatlichen Rechtes, die für eine straffreie Abtreibung gegeben sein muß – neben anderen. Der Schein dient primär zum Nachweis der Beratung.

Wenn Sie von der katholischen Kirche in Deutschland sprechen, meinen Sie auch die Entscheidungsträger in der deutschen Bischofskonferenz. Kann es hier zu einem handfesten Streit zwischen den "liberalen" Befürwortern des momentanen Beschlusses um Karl Lehmann und den konservativen Kritikern um die Bischöfe Dyba und Meisner kommen?

Weiß: Ich bin kein Prophet und kann nicht hinter die Kulissen sehen. Der momentane Beschluß ist zur Zeit noch nicht in Rechtskraft, der neue Schein mit Zusatz wird noch gar nicht ausgestellt. Die neue Initiative, der neuePapst-Brief bietet Anlaß zur Diskussion. Aber wie immer die Beschlußlage in der Bischofskonferenz ausehen wird – jeder Bischof ist Haupt seiner Teilkirche und nur seinem Gewissen verpflichtet. Beispiel ist hier Bischof Dyba, der sich auf sein Gewissen berufen hat und in seiner Diözese keinen Schein bei der Beratung durch die katholischen Stellen ausstellt. Dieses könnten andere Bischöfe natürlich auch tun und eine andere Regelung treffen als die von der Mehrheit beschlossene oder die von Rom gewünschte.

In Fulda wird beraten, ohne den Schein auszustellen, und es kommen nicht weniger Frauen in die Beratung. Ist solch eine Vorgehensweise nicht eine aufrichtige Hilfestellung für die Familien?

Weiß: Ich bezweifle nicht, daß in Fulda eine effektive Beratung geleistet wird. Ich kenne aber die genauen Zahlen nicht. Die Situation in der Diözese Fulda ist jedoch nicht beispielhaft für ganz Deutschland. Die Mehrheit der Bevölkerung und der Frauen dort sind katholisch und haben einen leichteren Zugang zu den katholischen Institutionen. Ich könnte mir vorstellen, daß es in einer anderen Ecke Deutschlands, in Hamburg oder im Ruhrgebiet, ganz anders aussieht. Ein Bischof entscheidet auch nach der Situation und den Bedingungen in seiner Diözese. Sicherlich ist die Beratung in Fulda qualitativ hochwertig. Aber sie dürfen nicht vergessen, daß die Bischöfe anderer Diözesen ihren Einsatz für die Familie erheblich gesteigert haben. Dies gilt für den finanziellen Einsatz ebenso wie für den personellen Einsatz. Ich denke hier insbesondere an Bischof Spital in Trier, an Bischof Kamphaus in Limburg oder Bischof Kasper in Rottenburg, solange er noch hier war. Die Bischöfe tun alles, damit jede Frau, die vor dieser existentiellen Entscheidung steht, sich zum göttlichen Gebot durchringen kann.

Wäre es nicht konsequent, wenn sich die Kirche ganz aus der Schwangerenberatung zurückzöge?

Weiß: Die Bischöfe wollen alle Frauen in der Konfliktsituation erreichen, auch jene, die sich innerlich schon für eine Abtreibung entschieden haben. Hier wollen die Bischöfe mit den Frauen nochmals reden und ihnen die Hilfemöglichkeiten aufzeigen. Ohne Ausstellung des Scheins wäre die Gefahr größer, daß wir diese Frauen nicht mehr erreichen. Ein Rückzug aus dem jetzigen System würde in der Gesellschaft keinen Sinneswandel herbeiführen. Die Vorstellung wäre illusorsich. Mir persönlich erscheint es wichtig, daß in dieser Frage der Dialog zwischen Staat, Kirche und Gesellschaft aufrechterhalten und gepflegt wird. Die Kirche kann den Gesetzgeber aber nicht zwingen, die momentane Regelung, so wünschenswert das wäre zu ändern. Aber sie muß in dieser Frage mit dem Staat und der Gesellschaft im Gespräch bleiben, wenn wir von den hohen Abtreibungszahlen irgendwann herunterkommen wollen.

Geht es bei dem Streit um den Schein nicht auch um Machtfragen innerhalb der Kirche?

Weiß: Dies sind vielfach Spekulationen in den Medien. Man wird es ja noch sehen. Der Kompromiß ist mit der Zustimmung Roms erreicht worden. Er ist auch moraltheologisch zu rechtfertigen. Ich kann nur schwer verstehen, warum dieser Kompromiß von dorther wieder hinterfragt wurde.

Welchen Einfluß haben die deutschen Bischöfe in Rom?

Weiß: Die deutschen Bischöfe sind nicht ohne Einfluß in Rom, Viele führende Köpfe des deutschen Episkopats werden nach Rom geholt, erst kürzlich Bischof Kasper. Aber vielleicht gilt das Wort einer Kardinals mehr als das profilierter Theologen. In der konkreten Frage geht es aber weniger um den Schein, sondern wichtig ist das Gesamtkonzept der Beratung und Hilfeplanung. Dieses Konzept wurde erst kürzlich von dem Präsidenten des deutschen Bundes der Frauenärzte, Armin Malter, ausdrücklich gelobt, da es den Auftrag, zum Leben zu beraten, am konsequentesten umsetze.

Haben mit der Wiederwahl von Bischof Karl Lehmann die Konservativen eine Niederlage erlitten?

Weiß: Es war eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Ich würde hier jedoch nicht von einer Niederlage sprechen. Vor allem wurde ein Stellvetreter für Karl Lehmann gewählt, der Kirchenrechtler und ein großer Diplomat ist. Bischof Karl Lehmann hat scharfen Intellekt, theologische Kompetenz und große Integrationskraft. Sein Stellvertreter Bischof Heinrich Mussinghoff ist ebenfalls ein geschickter Vermittler.

 

Prof. Dr. Dr. Andreas Weiß ist Professor für Kirchenrecht der Katholischen Universität Eichstätt. Er wurde 1954 in Gnotzheim (Bayern) geboren. Nach seinem Abitur studierte er Theologie in Eichstätt und Würzburg, wo er promovierte, und an dem Kanonischen Institut in Straßburg. Er habilitierte 1990 in Tübingen. Seit 1994 hat er den Lehrstuhl für Kirchenrecht und Rechtliche Kirchengeschichte der Universität Eichstätt/Rottenburg inne.


 
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