© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/99 24. September 1999


Philosophie: Zum 110. Geburtstag Martin Heideggers
Der Mensch als Platzhalter des Nichts
Werner Olles

Martin Heidegger wurde am 26. September 1889 in dem zwischen Bodensee und Schwarzwald gelegenen badischen Landstädtchen Meßkirch geboren. Der Vater war ein einfacher Handwerksmeister, der außerdem als Küster in der katholischen Sankt-Martins-Kirche tätig war. Der junge Heidegger besuchte die Gymnasien in Konstanz und Freiburg, später studierte er dann Theologie. Im Jahre 1915 gab er aus gesundheitlichen Gründen das Theologiestudium auf und widmete sich fortan der Philosophie.

In Freiburg wird Heidegger schon bald Assistent des zur "Phänomenologischen Schule" zählenden Edmund Husserl. 1917 heiratet er eine sächsische Offizierstochter und wird 1923 an die Philipps-Universität in Marburg berufen. Hier ist unter anderen Hannah Arendt seine Schülerin, aber auch Karl Löwith, Hans Jonas, Herbert Marcuse, und Hans Georg Gadamer gehören zu jenen seiner Schüler, die später selbst einmal berühmt werden sollten. Mit Rudolf Bultmann, Max Scheler und Karl Jaspers steht Heidegger zu dieser Zeit in einem engen und freundschaftlichen Verhältnis.

1927 erscheint die erste unvollständige Hälfte von "Sein und Zeit". Methodisch ist dieses Werk, das eigentlich Heideggers Hauptwerk ist, der Phänomenologie Husserls verpflichtet. Das Anliegen von "Sein und Zeit" ist, den "Sinn vom Sein" neu zu begründen durch die fundamental-ontologische Analyse des Seins-Verständnisses des Menschen, der als das "Da" des "Seins" gefaßt und als dessen Grundseinsweise die "Sorge" aufgewiesen wird. Diese Philosophie von "Sein und Zeit" formulierte Heidegger am eindrucksvollsten in seiner 1929 gehaltenen Antrittsvorlesung an der Freiburger Universität "Was ist Metaphysik?": "Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst macht den Menschen zum Platzhalter des Nichts."

Im April 1933 übernahm Heidegger das Rektorat der Universität Freiburg, trat in die NSDAP ein und hielt einige Reden, die zweifellos im Sinne der neuen Machthaber gedeutet werden konnten. Von anderen Partei-Intellektuellen, wie Erich Jaensch, wurde Heidegger allerdings abgelehnt, da er in Marburg der Führer einer "jüdischen Clique" gewesen sei und sein Denken zudem unverkennbar "talmudisch-rabulistische Züge" trage. Heidegger selbst war der Überzeugung, daß der Kommunismus letztlich nur durch eine andere Diktatur überwunden werden könne. Da der Kommunismus aber die abendländische Kultur vernichten wolle, dürfe diese andere Diktatur auch vor gewalttätigen Gegenmaßnahmen nicht zurückschrecken. Dennoch galt er nach dem Kriege als Symphatisant des Nationalsozialismus, was seinem großen Einfluß auf die philosophisch-literarische Bewegung des französischen Existenzialismus (Sartre, Camus) jedoch keinen Abbruch tat.

In das gedankliche Umfeld der nicht veröffentlichten zweiten Hälfte von "Sein und Zeit" gehören die späteren Schriften "Vom Wesen des Grundes" (1929), "Vom Wesen der Wahrheit" (1943), "Der Feldweg" (1949), "Aus der Erfahrung des Denkens" (1954), "Was heißt Denken?" (1954), "Zur Seinsfrage" (1956), "Gelassenheit" (1959) und "Nietzsche" (1962), in denen die zu Beginn angezielte Kehre ausdrücklich vollzogen wird, nicht mehr vom menschlichen Dasein auf das Sein hin, sondern aus dem Sein selbst her zu denken. So enthüllt sich das Sein als das welteröffnende Geschick.

Die Grundweise, wie diese Welteröffnung geschieht, ist die Sprache. In dem Bemühen, denkend auf den Zuspruch des Seins zu hören – und zwar gerade auch das in diesem Zuspruch immer zugleich Vorenthaltende, Verschwiegene, Ungesagte als solches zu vernehmen –, gründet vornehmlich Heideggers Ernstnehmen der Worte. Dies gilt sowohl den philosophischen Termini in der Geschichte ihres oft übersehenen Bedeutungswandels, als auch den Worten der Umgangssprache in ihrem vergessenen oder noch nie ausdrücklich erinnerten Sinn, wobei die etymologischen Rekurse wie die Art der Sinnentfaltung der Gewaltsamkeit nicht immer entgehen.

Zum anderen gründen darin Heideggers wiederholte Interpretationsversuche von Dichtungen, so von Hölderlin, Rilke und Trakl. Diese Interpretationen wollen sich als Zwiegespräch des wesentlichen Denkens, das, vor alle Metaphysik, in ihren Grund zurückgeht, mit dem benachbarten Dichten verstehen. Hölderlin erscheint dabei als der "Vorgänger aller Dichter in dürftiger Zeit", Georg Trakl als der "Dichter des noch verborgenen Abend-Landes".

Den späten Heidegger hat Ernst Nolte als "Miturheber einer linken und grünen Bewegung" bezeichnet, was nicht verwunderlich ist, wenn man sich daran erinnert, daß er schon 1935 darauf hinwies, es komme darauf an, daß "ein Baum, ein Berg, ein Haus, ein Vogelruf" in einem neuen Seinsverständnis wieder als die Wunder erfahrbar würden, die sie seien. Nicht unterschätzt werden sollte auch sein Einfluß auf die Postmoderne, den Dekonstruktivismus und die Naturwissenschaften. Heidegger griff aber auch die besonders mit Dilthey zutage getretene Problematik der Geschichtlichkeit einerseits und die Kierkegaard’schen Analysen der sich aus allen geschichtlich allgemeinen Bezügen in die Absolutheit individueller Entscheidung zurücknehmenden menschlichen Existenz andererseits auf.

In die Sprache der gegenwärtigen Literatur und Literaturkritik gingen zahlreiche von Heidegger geprägte oder umgeprägte Ausdrücke ein, die "Zuhandenheit", das "Vorlaufen zum Tode", die Angst des Menschen in seinem Welt- und Selbstvollzug oder das "Man" des verflachten Denkens der Öffentlichkeit.

In "Holzwege" hat Heidegger noch einmal das sprachliche Kunstwerk, die Dichtung im engeren Sinne (Poesie) als eine ausgezeichnete Weise jener Dichtung im weiteren Sinne erklärt, die das Wesen der Kunst überhaupt ausmacht und als "Stiftung" der welteröffnenden Wahrheit für ein geschichtliches Menschentum die reinste Entsprechung zum Zuspruch des Seins ist.

Als Martin Heidegger am 26. Mai 1976 starb, nahmen seine Gegner Abschied von einem "Philosophen des aristokratischen Nihilismus", die New York Herold Tribune bezeichnete ihn jedoch zutreffend als "einen der einflußreichsten Denker dieses Jahrhunderts".


 
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