© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/99 24. September 1999


Die Nouvelle Droite (Neue Rechte) des Jahres 2000
Aufstand der Kulturen

1. Gegen die Undifferenziertheit und den Tribalismus, für starke Identitäten

Die noch nie dagewesene Gefahr der Vereinheitlichung, die der Welt droht, führt im Gegenzug zu identitären Zuckungen: blutige Irredentismen, krampfartig zuckende Nationalismen, wilde Tribalisierungen usw. Verantwortlich für diese verwerflichen Haltungen ist in erster Linie die (politische, wirtschaftliche, technologische, finanzgeschäftliche) Globalisierung, die sie hervorgerufen hat. Indem das westliche System den Menschen das Recht absprach, sich in geschichtlich vererbte kollektive Identitäten einzufügen, indem es einen einförmigen Modus der Vertretung aufzwang, rief es paradoxerweise rasende, pathologische Formen der Selbstbehauptung hervor. Die Angst vor dem Gleichen hat die Angst vor dem Anderen abgelöst. In Frankreich wird diese Lage durch die Krise des Staats noch verstärkt, der sich seit zweihundert Jahren als wichtigster Symbolerzeuger der Gesellschaft verstand und dessen Abschwächung eine größere Leere als in den meisten anderen westlichen Nationen erzeugt.

Die Entwurzelung ist eine soziale Pathologie unserer Zeit, die die Menschen anfälliger für die Konditionierungen macht. Die Wurzeln setzen meistens ein Territorium voraus, denn der Mensch ist ein territoriales Tier. Sie verweisen aber auch auf eine umfangreichere Problematik, nämlich die der Zugehörigkeit, die ebensowohl auf eine nichtterritoriale Weise erlebt werden kann. Die Identitäts- und Zugehörigkeitsfrage wird in den kommenden Jahrzehnten eine immer größere Bedeutung erlangen. Indem die Moderne die sozialen Systeme umstieß, die den Menschen einen Platz in einer anerkannten Ordnung zuwiesen, hat sie in der Tat das Fragen nach der Identität angeregt, den Wunsch nach Verbindung und Anerkennung auf der öffentlichen Bühne wachgerufen. Sie hat ihm aber weder entsprechen können noch wollen. Der "Welttourismus" ist nur eine lächerliche Alternative zur Abschottung.

Gegenüber der universalistischen Utopie und den partikularistischen Zuckungen betont die Nouvelle Droite1 die Kraft und die Normalität der Unterschiede, die weder ein Übergangszustand zu einer höheren Einheit noch eine nebensächliche Einzelheit des Privatlebens sind, sondern die eigentliche Substanz des gesellschaftlichen Lebens. Die Völker sind nämlich keine bloßen Additionen individueller Atome, sondern Wesenheiten mit eigener Persönlichkeit, die sich im Laufe der Geschichte geprägt hat. Es sind natürliche (ethnische, sprachliche) Unterschiede, aber auch politische. Die Staatsbürgerschaft bezeichnet zugleich die Zugehörigkeit, die Gefolgschaft und die Teilnahme am öffentlichen Leben, was sich auf mehreren Ebenen verteilt: So kann man zugleich Bürger seines Viertels, seiner Stadt, seiner Region, seiner Nation und Europas sein, je nach dem Wesen der Macht, die jeder dieser Entscheidungs- und Souveränitätsstufen übertragen wird. Dagegen kann man nicht "Weltbürger" sein, denn die Welt ist keine politische Kategorie. Weltbürger sein zu wollen heißt die Bürgerschaft auf einen abstrakten Begriff zurückführen, der aus dem Wortschatz der liberalen Neuen Klasse stammt.

Die Nouvelle Droite tritt für die Sache der Völker ein, weil ihrer Ansicht nach das Recht auf Verschiedenheit ein Prinzip ist, das nur durch seine Allgemeinheit gilt. Man ist berechtigt, seine Verschiedenheit zu verteidigen, wenn man auch imstande ist, die der anderen zu verteidigen; das bedeutet, daß das Recht auf Verschiedenheit nicht instrumentalisiert werden darf, um die Anderen auszuschließen. Die Nouvelle Droite tritt ebenfalls für die Ethnien, die Regionalsprachen und -kulturen ein, die vom Aussterben bedroht sind, sowie für die einheimischen Religionen. Sie unterstützt außerdem die Völker im Kampf gegen den westlichen Imperialismus.

2. Gegen den Rassismus, für das Recht auf Verschiedenheit

Der Rassismus kann nicht als Vorliebe für die Endogamie definiert werden, die aus der freien Wahl der Menschen und Völker hervorging (das jüdische Volk zum Beispiel verdankte seinen Fortbestand nur der Ablehnung der Mischehe). Angesichts der Inflation an stark vereinfachenden, propagandistischen und moralisierenden Äußerungen muß man zur tatsächlichen Bedeutung der Begriffe zurückkehren. Der Rassismus ist eine Theorie (Rassentheorie). Sie behauptet entweder, daß zwischen den Rassen solche qualitativen Ungleichheiten bestünden, daß man insgesamt "höhere" Rassen von insgesamt "niederen" Rassen unterscheiden könne, oder daß sich der Wert eines Menschen ausschließlich aus seiner Rassenzugehörigkeit herleiten lasse, oder daß das Rassische den wichtigsten erklärenden Faktor der Menschengeschichte bilde. Diese drei Postulate sind zusammen oder einzeln aufgestellt worden. Sie sind alle drei falsch. Wenn die Rassen tatsächlich existieren und in bezug auf dieses oder jenes vereinzelte Kriterium voneinander abweichen, bestehen zwischen ihnen keine absoluten qualitativen Unterschiede. Zum anderen gibt es kein das Menschengeschlecht überragendes Paradigma, das sie in eine Rangordnung bringen könnte. Es ist schließlich offensichtlich, daß der Wert eines Menschen in erster Linie in den Eigenschaften liegt, die ihm eigen sind. Der Rassismus ist keine Geisteskrankheit, die durch das Vorurteil oder den vormodernen Aberglauben erzeugt würde (liberale Mär der Irrationalität als Quelle allen sozialen Übels). Es handelt sich vielmehr um eine irrige, geschichtlich datierte Lehre, die in dem wissenschaftlichen Positivismus gründet, dem zufolge der Wert der Menschengesellschaften sich im Absoluten "wissenschaftlich" messen lasse, sowie im Sozialevolutionismus, der die Geschichte der Menschheit als einheitliche, in "Entwicklungsstufen" geteilte Geschichte zu beschreiben neigt: Manche Völker seien vorübergehend oder endgültig weiter "fortgeschritten" als andere.

Dem Rassismus stehen ein universalistischer und ein differentialistischer Antirassismus gegenüber. Der erste führt mittelbar zum gleichen Ergebnis wie der Rassismus, den er verurteilt. Er ist nämlich ebenso allergisch gegen Unterschiede, erkennt in den Völkern nur ihre gemeinsame Zugehörigkeit zur Art und neigt dazu, ihre besonderen Identitäten als vorübergehend oder nebensächlich zu betrachten. In einem rein assimilationistischen Blickwinkel den Anderen auf den Gleichen zurückführend, ist er also definitionsgemäß außerstande, die Andersheit als solche anzuerkennen und zu achten. Der differentialistische Antirassismus, in dem sich die Nouvelle Droite wiedererkennt, ist dagegen der Ansicht, daß die unreduzierbare Vielfalt des Menschengeschlechts dessen Reichtum bildet. Er ist bestrebt, dem Universalen einen positiven Sinn wiederzugeben, nicht gegen, sondern aufgrund der Verschiedenheit. Für die Nouvelle Droite geht der Kampf gegen den Rassismus weder über die Negierung der Rassen noch über den Willen, sie in ein undifferenziertes Gebilde zusammenzuschmelzen, sondern über die doppelte Ablehnung des Ausschlusses und der Assimilierung. Also weder apartheid noch melting-pot, sondern Annahme des Anderen als Anderen in einer dialogischen Sicht gegenseitiger Bereicherung.

3. Gegen die Immigration, für die Zusammenarbeit

Wegen ihrer Schnelligkeit und ihres Umfangs bildet die Bevölkerungsimmigration, wie wir sie zur Zeit in Europa erleben, eine unbestreitbar negative Erscheinung. Sie stellt im wesentlichen eine Form der Zwangsentwurzelung dar, deren Gründe sowohl wirtschaftlicher Art – spontane oder organisierte Massenbewegungen von den armen zu den reichen Ländern, die demographisch weniger vital sind – als auch symbolischer Art sind: Anziehungskraft der westlichen Zivilisation, die sich durch die Entwertung der einheimischen Kulturen zugunsten einer auf Konsum angelegten Lebensweise durchsetzt. Die Verantwortung für die Immigration liegt nicht in erster Linie bei den Auswanderern, sondern in der Logik des Kapitals, die, nachdem sie die internationale Arbeitsteilung durchgesetzt hatte, den Menschen auf den Zustand einer Ware reduzierte, deren Standort man verlegen könne. Die Immigration verwandelt die Völker in bloße Additionen austauschbarer Individuen. Sie ist weder für die Auswanderer wünschenswert, die ihre Heimat für ein anderes Land aufgeben müssen, wo sie als ergänzende Arbeitskräfte wegen wirtschaftlichen Bedarfs aufgenommen werden, noch für Empfängerstaaten, deren Bevölkerungen, ohne sich dafür entschieden zu haben, sich manchmal gewaltigen Veränderungen ihrer menschlichen und städtischen Umwelt gegenübersehen.

Es ist klar, daß sich die Probleme der Drittländer nicht durch allgemeine Bevölkerungstransfers lösen werden und daß die Toleranzschwelle, wo auch immer sie liegt, heute weit überschritten ist. Es ist auch klar, daß die Führungskräfte jedes Staates daran gehalten sind, sich vorrangig um die Zukunft und die Identität ihrer Mitbürger zu kümmern.

Die Nouvelle Droite befürwortet demnach eine einschränkende Einwanderungspolitik, die den Trend umkehren soll, gekoppelt mit einer verstärkten Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt, wo Formen der organischen Zusammengehörigkeit und die traditionellen Lebensformen vielfach lebendiger als woanders geblieben sind, um die durch die liberale Globalisierung ausgelösten Ungleichgewichte zu überwinden.

In allen Breiten war das multiethnische Zusammenleben schon immer eine Quelle von Problemen und Auseinandersetzungen. Bezüglich der Bevölkerungen immigrierter Herkunft, die heute in Frankreich ansässig sind und deren massive Abwanderung nicht zu erwarten ist, konnte die zentralistische Staatsnation nur das Modell einer rein individuellen Anpassung an eine abstrakte Bürgerschaft bieten, das von kollektiven Identitäten und kulturellen Unterschieden nichts wissen will. Die Zahl der Einwanderer, die kulturelle Kluft, die sie meistens von der gastgebenden Bevölkerung trennt, und dazu die tiefe Krise, die alle herkömmlichen Integrationstiegel (Parteien, Gewerkschaften, Religionen, Schule, Armee usw.) trifft, machen heute dieses Modell immer weniger glaubhaft. Die Nouvelle Droite ist der Ansicht, daß die ethnokulturelle Identität der einzelnen heute in Frankreich und Westeuropa lebenden Gemeinschaften nicht mehr auf den privaten Bereich beschränkt sein, sondern Gegenstand einer echten Anerkennung in der öffentlichen Sphäre werden muß. Die Nouvelle Droite pflichtet also einer Gesellschaftsform kommunitarischer Prägung bei. Diese gibt den Menschen, die es wünschen, die Möglichkeit, sich nicht von ihren Wurzeln abzutrennen, ihre Strukturen kollektiven Lebens aufrechtzuerhalten und die Achtung eines notwendigen gemeinsamen Gesetzes nicht mit der Aufgabe der eigenen Kultur zahlen zu müssen. Diese kommunitarische Politik könnte früher oder später zu einer Trennung von Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit führen. Der Polykulturalismus, der wenigstens den Pluralismus bedingt, ist besser als der Assimilationismus.

4. Gegen den Sexismus, für die Anerkennung der Geschlechter

Der Geschlechtsunterschied ist der erste und grundlegendste der natürlichen Unterschiede, denn unser Menschentum sichert durch ihn seinen Fortbestand (der heute durch die Erosion der Alterspyramide gefährdet ist): Die von Anfang an geschlechtliche Menschheit ist nicht eins, sondern doppelt. Über die Biologie hinaus kommt dieser Unterschied in der männlichen und der weiblichen Gattung zum Ausdruck, die im gesellschaftlichen Leben zwei Arten bestimmen, den Anderen und die Welt wahrzunehmen, und für die Menschen ihre geschlechtliche Schicksalsform ergeben. Wenn die Existenz eines weiblichen und eines männlichen Wesens kaum zu bestreiten ist, schließt sie jedoch nicht aus, daß die Angehörigen jedes Geschlechts je nach genetischen Zufälligkeiten oder soziokulturellen Wahlentscheidungen von diesem Wesen abweichen können. Alles in allem lassen sich trotzdem zahlreiche Werte und Haltungen in weibliche und männliche Gattung einteilen, je nach dem Geschlecht, das sie am ehesten überträgt und vermittelt: Zusammenarbeit und Wettstreit, Vermittlung und Repression, Verführung und Herrschaft, Empathie und Gleichgültigkeit, Relation und Abstraktion, Emotionalität und Führung, Überzeugung und Aggression, synthetische Intuition und analytische Erkenntnis usw. Die moderne Auffassung abstrakter, von ihrer sexuellen Identität losgelösten Individuen – sie ist das Produkt einer nichtdifferenzierenden Ideologie, die den geschlechtlichen Unterschied neutralisiert – ist nicht weniger nachteilig für die Frauen als der herkömmliche Sexismus, der jahrhundertelang die Frauen als unvollständige Männer angesehen hat. Sie ist eine versteckte Form der männlichen Vormachtstellung, die hauptsächlich zum Ausschluß der Frauen vom öffentlichen Betätigungsfeld führte, um sie schließlich dort zu empfangen – vorausgesetzt, daß sie sich ihrer Weiblichkeit entledigen.

Mit der Behauptung, das männliche und das weibliche Geschlecht seien einzig das Produkt des sozialen Aufbaus ("Man wird nicht als Frau geboren, man wird es"), geriet der universalistische Feminismus in eine androzentrische Falle, indem er abstrakten "allgemeingültigen" Werten beipflichtete, die letzten Endes nur männliche Werte sind. Der differentialistische Feminismus, dem die Nouvelle Droite beipflichtet, wünscht dagegen, daß sich der Geschlechtsunterschied in die öffentliche Sphäre einfügt, und zögert nicht, rein weibliche Rechte zu beteuern (Recht auf Unschuld, Recht auf Mutterschaft, Recht auf Abtreibung). Gleichzeitig unterstützt sie gegen den Sexismus und die Unisex-Utopie die Förderung der Männer wie der Frauen durch die Behauptung und die Feststellung der Gleichwertigkeit ihres eigenen Wesens.

5. Gegen die Neue Klasse, für die Eigenständigkeit von unten

Die auf dem Weg der Einigung befindliche westliche Zivilisation fördert heute den weltweiten Aufstieg einer Führungskaste, deren einzige Rechtmäßigkeit in der abstrakten (logisch-symbolischen) Handhabung der Zeichen und Werte des herrschenden Systems liegt. Diese Neue Klasse, die das ununterbrochene Wachstum des Kapitals und die endgültige Herrschaft eines siegenden Social Engineerings2 anstrebt, bildet das Gerüst der Medien, der nationalen oder multinationalen Großunternehmen, der internationalen Organisationen, der obersten Staatsbehörden. Sie erzeugt und reproduziert überall den gleichen Menschentypus: kalte Sachkundigkeit, von der Wirklichkeit losgelöste Rationalität, abstrakter Individualismus, ausschließlich auf Nutzen ausgerichtete Überzeugungen, oberflächlicher Humanitarismus, Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte, offenkundiger Bildungsmangel, Abstand von der erlebten Welt, Opferung des Wirklichen für das Virtuelle, Hang zu Bestechung, Vetternwirtschaft und Klientelismus. Dieser Prozeß fügt sich in die Logik der Konzentration und Vereinheitlichung der Weltherrschaft ein: Je mehr sich die Macht vom Bürger entfernt, um so weniger empfindet sie das Bedürfnis, ihre Entscheidungen zu rechtfertigen und ihre Ordnung zu legitimieren; je mehr die Gesellschaft unpersönliche Aufgaben bietet, um so weniger öffnet sie sich besonders fähigen Menschen; je mehr das Private in das Öffentliche eingreift, desto weniger werden individuelle Verdienste von allen anerkannt; je mehr man eine Funktion ausübt, desto weniger kann man eine Rolle spielen. Die Neue Klasse entpersönlicht somit die wirkliche Leitung der westlichen Gesellschaften, sie nimmt ihr die Verantwortung.

Seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Ostblocks sieht sich die Neue Klasse einer ganzen Reihe von Konflikten gegenübergestellt (zwischen Kapital und Arbeit, Gleichheit und Freiheit, Öffentlichem und Privatem), die sie in den Jahrzehnten zuvor zu externalisieren, also nach außen zu verlagern, sich bemüht hatte. Gleichzeitig werden ihre Vergeudungen, ihre Ineffizienz und ihre Kontraproduktivität immer offensichtlicher. Das System neigt dazu, sich abzukapseln, indem es austauschbare Getriebe hinzuwählt, während die Völker Gleichgültigkeit oder Zorn gegen eine geschäftsführende Elite empfinden, die nicht mehr dieselbe Sprache wie sie spricht. Bei allen großen Gesellschaftsfragen wird die Kluft größer zwischen Regierenden, die das gleiche technokratische Gerede über die Aufrechterhaltung der bestehenden Unordnung ständig wiederholen, und Regierten, die deren Folgen im täglichen Leben erdulden – dazwischen tritt das Medienspektakel ein, um die Aufmerksamkeit von der augenblicklichen Welt auf die vorgestellte Welt zu lenken. Oben: die technokratische Phrasendrescherei, das mobilisierende Geklapper und behagliche Einkommen. Unten: die schmerzliche Konfrontation mit der Wirklichkeit, die ständige Frage nach dem Sinn und der Wunsch nach geteilten Werten.

Die Bestrebungen des Volkes, das nur Verachtung für die "Eliten" und Gleichgültigkeit gegenüber den herkömmlichen, heute überholten politischen Trennungslinien empfindet, zu befriedigen setzt voraus, daß man den Grundstrukturen, die täglich erlebten Lebensweisen (nomoi) entsprechen, wieder mehr Eigenständigkeit gibt. Um weit weg von der Massenanonymität, der Merchandisierung der Werte und der Verdinglichung der sozialen Beziehungen soziale Lebensformen wieder zu schaffen, die der kollektiven Vorstellungswelt ermöglichen, eigene Weltanschauungen zu entwickeln, müssen die Gemeinschaften von sich aus in allen sie betreffenden Bereichen entscheiden und ihre Mitglieder auf allen Ebenen der demokratischen Beratung und Entscheidung mitwirken können. Es ist nicht der bürokratische und technokratische Wohlfahrtsstaat, der sich in ihre Richtung dezentralisieren muß. Es sind vielmehr die Gemeinschaften selbst, die dem Staat eine Interventionsbefugnis nur in den Bereichen zugestehen müssen, in denen sie nicht kompetent sind.

6. Gegen den Zentralismus, für ein bundesstaatliches Europa

Der erste Dreißigjährige Krieg (1618–48), der mit dem Westfälischen Frieden zu Ende ging, führte zur Anerkennung der Staatsnation als herrschender Form der politischen Organisation gegen das frühere Reichsmodell. Der zweite Dreißigjährige Krieg (1914–45) unterzeichnete hingegen den Beginn der Auflösung der Staatsnationen. Die Staatsnation, die aus der absoluten Monarchie und dem revolutionären Jakobinismus hervorging, ist nunmehr zu groß, um die kleinen Probleme zu lösen, und zu klein, um den großen zu begegnen. In einer globalisierten Welt gehört die Zukunft großen Zivilisationsgebilden, die in der Lage sind, sich als autozentrierte Räume zu gestalten und sich genügend Macht zu verleihen, um sich dem Einfluß anderer zu widersetzen. Um seine Unabhängigkeit gegenüber den USA und den neuen zutage tretenden Zivilisationen zu sichern, ist Europa dazu berufen, sich auf einer bundesstaatlichen Grundlage aufzubauen, die die Eigenständigkeit aller seiner Bestandteile anerkennt und die Zusammenarbeit der es zusammensetzenden Regionen und Nationen gestaltet. Die europäische Zivilisation wird über die Zusammensetzung ihrer historischen – regionalen wie nationalen – Kulturen, und nicht durch deren Verneinung zustande kommen und damit allen Einwohnern Europas ermöglichen, sich ihrer gemeinsamen Wurzeln wieder bewußt zu werden. Das Subsidiaritätsprinzip muß deren Schlußstein bilden: Auf allen Ebenen soll die untere Behörde ihre Macht der höheren einzig in den Bereichen übertragen, die sich ihrer Zuständigkeit entziehen.

Gegen die zentralisierende Tradition, die alle Macht auf einer einzigen Ebene vereint, gegen das bürokratische und technokratische Europa, das Souveränitätsverzichte billigt, ohne sie auf eine höhere Ebene zu übertragen, gegen ein Europa, das lediglich ein vereinigter Freihandelsraum wäre, gegen das "Europa der Nationen", bloße Addition nationaler Egoismen, die vor einer Rückkehr der fremden Kriege nicht schützt, gegen eine "europäische Nation", die nur eine größere Projektion der zentralisierenden Staatsnation wäre, muß sich (West-, Mittel- und Ost-) Europa von unten bis oben neugestalten, und zwar in enger "kontinentaler" Verbindung mit Rußland; die bestehenden Staaten sollen innen eine bundesstaatliche Form annehmen, um sich außen besser zusammenzuschließen, in einer Vielfalt von besonderen Status, die von einem gemeinsamen gemäßigt werden. Jede Verbandsebene muß dort ihre eigene Rolle und Würde haben, die nicht von der höheren Instanz abgeleitet, sondern auf dem Willen und der Zustimmung aller Beteiligten gegründet sind. An die Spitze des Gebäudes kämen also nur die Entscheidungen zurück, die alle zusammengeschlossenen Völker und Gemeinschaften betreffen: Diplomatie, Armee, große Wirtschaftsentscheidungen, Ausarbeitung und Festsetzung der wesentlichen Rechtsnormen, Umweltschutz usw. Die europäische Integration ist auch in bestimmten Bereichen der Forschung, der Industrie sowie der neuen Technologien der Informationsvermittlung notwendig. Die Einheitswährung muß von einer Zentralbank verwaltet werden, die der europäischen politischen Macht untersteht.

7. Gegen die Entpolitisierung, für die Verstärkung der Demokratie

Heute ist die Demokratie durch eine ganze Reihe von Abweichungen und "Pathologien" gefährdet: Krise der Vertretung, Austauschbarkeit der politischen Programme, Nichtbefragung des Volkes bei großen Entscheidungen, die seine Existenz berühren, Bestechung und Technokratisierung, Disqualifizierung der Parteien, die nur noch Maschinen zum Gewähltwerden sind (deren Führer werden nur noch aufgrund ihrer Fähigkeit aufgestellt, ausgewählt zu werden), Entpolitisierung unter der Wirkung der Polarität Moral–Wirtschaft, Vormachtstellung von Lobbies, die ihre eigenen Interessen gegen das Allgemeinwohl verteidigen usw. Hinzu kommt die Tatsache, daß wir die moderne politische Problematik verlassen haben: Alle Parteien sind mehr oder weniger reformistisch, alle Regierungen sind mehr oder weniger ohnmächtig. Die "Machtergreifung" im leninistischen Sinne des Wortes führt zu nichts. In der Welt der Netze ist der Aufstand möglich, aber nicht die Revolution.

An den demokratischen Geist wieder anzuknüpfen heißt nicht, sich mit der einzigen repräsentativen Demokratie zufrieden zu geben, sondern auf sämtlichen Ebenen eine echte mitbestimmende Demokratie auf die Beine zu stellen, nach dem Motto: "Was alle berührt, muß die Angelegenheit von allen sein". Dazu gilt es, das politische Leben zu entstaatlichen durch die Neuschaffung von staatsbürgerlichen Freiräumen an der Basis: Jeder Bürger muß sich am Allgemeinwohl beteiligen, jedes gemeinsame Gut muß benannt und als solches verteidigt werden in der Perspektive einer konkreten politischen Ordnung. Es wäre in diesem Sinne falsch, die demokratischen den republikanischen Werten gegenüberzustellen. Der verbrauchende Kunde, der passive Zuschauer und der private Anspruchsberechtigte können nur durch die Wiedergeburt der Staatsbürgerschaft und in einer grundlegend dezentralisierten Form der Basisdemokratie überwunden werden, die jedem bei der Wahl und der Bewältigung seines Schicksals eine Rolle zuweist. Das Verfahren der Volksabstimmung könnte durch das Volksbegehren ebenfalls neubelebt werden. Gegen die Allmacht der Geldes, der obersten Macht in der modernen Gesellschaft, gilt es, die Trennung von Reichtum und politischer Macht möglichst durchzusetzen.

8. Gegen die ausschließliche Gewinnorientierung, für die Arbeitsteilung

Die Arbeit (vom germ. arbejidiz, "Mühsal, Not"; s. auch franz. travail vom lat. tripalium, "Folterinstrument") hat in den frühzeitlichen oder traditionellen Gesellschaften nie eine zentrale Bedeutung gehabt, auch in den Gesellschaften, die zu keinem Zeitpunkt die Sklaverei gekannt haben. Weil die Arbeit den Zwängen der Notwendigkeit genügt, verwirklicht sie nicht unsere Freiheit – im Gegensatz zum Werk, in dem jeder die Verwirklichung seines Selbst ausdrückt. Die Moderne war es, die in ihrer gewinnorientierten Logik der vollständigen Mobilisierung der Ressourcen die Arbeit nicht nur zu einem Wert an sich gemacht hat, sondern auch zur wichtigsten Form der Eingliederung in die Gesellschaft und zu einer trügerischen Form der Emanzipation und der Eigenständigkeit der Menschen ("Freiheit durch Arbeit", "Arbeit macht frei").

Diese unselbständige (leistungsbezogene, zweckmäßige, finanziell entgoltene) Arbeit, die von den Menschen öfter aus Muß denn aus Berufung erledigt wird, hat nur Sinn im Hinblick auf den geschäftlichen Tausch und fügt sich immer in eine Bilanzrechnung ein. Die Produktion dient dazu, einen Konsum zu unterhalten, den die Ideologie des Bedarfs eigentlich als Ausgleich für die bei der Produktion verlorene Zeit bietet. Die früheren Nachbarschaftsaufgaben wurden somit allmählich finanziell entgolten, was die Menschen dazu trieb, für die anderen zu arbeiten, um diejenigen zu bezahlen, die für sie arbeiten. Der Sinn der Unentgeltlichkeit und der Gegenseitigkeit ist allmählich abgebröckelt in einer Welt, wo nichts mehr wert ist, wo aber alles (s)einen Preis hat (das heißt, wo alles, was nicht in Geld ausgedrückt bzw. mit Geld quantitativ erfaßt werden kann, für unbedeutend oder nichtexistent gehalten wird). So verliert in der Lohngesellschaft jeder Arbeitnehmer allzuoft seine Zeit beim Versuch, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Neu ist, daß wir dank der neuen Technologien und der zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors immer mehr Güter und Dienstleistungen mit immer weniger Menschen erzeugen. Diese Produktivitätsgewinne machen Arbeitslosigkeit und Unsicherheit der Arbeitsplätze nunmehr zu strukturellen, und nicht mehr konjunkturellen Erscheinungen. Sie unterstützen außerdem die Logik des Kapitals, das sich der Arbeitslosigkeit und der Standortverlagerung ins Ausland bedient, um die Verhandlungskraft der Arbeitnehmer zu verringern. Daraus ergibt sich, daß der Mensch nicht mehr nur ausgebeutet, sondern zunehmend überflüssig wird: Der Ausschluß ersetzt die Entfremdung in einer insgesamt immer reicheren Welt, in der aber auch immer mehr Arme gezählt werden (Ende der klassischen Theorie des "Abfließens"). Die ausgeschlossene Rückkehr zur Vollbeschäftigung bedingt also, daß man mit der Logik der ausschließlichen Gewinnorientierung bricht und bereits jetzt einen allmählichen Austritt aus der Ära der Lohnbeschäftigung als Hauptform der Sozialisation erwägt.

Die Verringerung der Arbeitszeit ist eine jahrhundertealte Gegebenheit, die das biblische Pflichtgebot ("Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen") allmählich obsolet macht. Die verhandelte Senkung und die Teilung der Arbeitszeit müssen gefördert werden, mit flexiblen Arbeitszeitregelungen (Beurlaubung, Umschulungen, Lehrgänge usw.) für alle unselbständigen Arbeiten: weniger arbeiten, um besser zu arbeiten und um die Zeit zum Leben frei zu machen. In einer Gesellschaft, in der das Warenangebot ständig wächst, während die Zahl derjenigen steigt, deren Kaufkraft stagniert oder sinkt, ist es außerdem notwendig, Arbeit und Einkommen allmählich voneinander zu trennen, indem man die Möglichkeit eines Mindesteinkommens oder einer Existenzhilfe überprüft, die an alle Staatsbürger von ihrer Geburt an bis zu ihrem Tod ohne Gegenleistung gezahlt würde.

9. Gegen die finanzpolitische Flucht nach vorn, für eine Wirtschaft im Dienst des Lebendigen

Aristoteles unterschied zwischen der "Ökonomie", die auf die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen hinzielt, und der "Chrematistik", deren einziger Zweck die Geldschaffung, der Geldverkehr und die Geldaneignung ist. Der Industriekapitalismus wurde allmählich von einem Finanzkapitalismus beherrscht, der kurzfristig eine Höchstrentabilität auf Kosten des tatsächlichen Zustands der Nationalökonomien und des langfristigen Interesses der Völker anstrebt. Diese Entwicklung hatte zahlreiche Auswirkungen: Dematerialisation der Geschäftsbilanzen (d.h. ihre Auflösung bis zu deren Unsichtbarkeit), Entfesselung der Spekulation, anarchische Ausgabe von zweifelhaften Obligationen, Verschuldung der Privatleute, Unternehmen und Nationen, führende Rolle der internationalen Investoren und Wertpapierfonds, die auf spekulative Gewinne hinzielen usw. Durch die Allgegenwart und Allmacht des Kapitals können die Finanzmärkte den Politikern ihr Gesetz aufzwingen. Die reale Wirtschaft ist der Unsicherheit und der Ungewißheit ausgesetzt, während eine riesige weltweite Finanzblase regelmäßig hier und da in Form von regionalen Taschen platzt und dabei Erschütterungen erzeugt, die sich durch das ganze System ausbreiten.

Das ökonomische Denken ist übrigens inzwischen in Dogmen erstarrt. Diese werden von mathematischen Formalismen gespeist, die den Anspruch auf Wissenschaft nur dadurch erheben, daß sie grundsätzlich alle nichtquantifizierbaren Elemente ausschließen. Die makroökonomischen Meßwerte (Bruttoinlandsprodukt, Bruttosozialprodukt, Wachstumsrate usw.) beispielsweise sagen nichts über den tatsächlichen Zustand einer Gesellschaft aus: Die Katastrophen, Unfälle oder Seuchen werden dort positiv erfaßt, da sie die Wirtschaftstätigkeit steigern.

Angesichts eines anmaßenden Reichtums, der nur auf Zunahme bedacht ist, indem er auf die von ihm selbst erzeugten Ungleichheiten und Leiden spekuliert, muß die Wirtschaft wieder in den Dienst des Menschen gestellt werden, indem man den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen und ihrer Lebensqualität den Vorrang gibt, indem man weltweit Kapitalbewegungen besteuert, indem man die Auslandsverschuldung der Dritte-Welt-Staaten bereinigt und dabei das System der "Entwicklung" streng überprüft: Vorrang der Selbstversorgung und der Befriedigung der Nachfrage auf den Innenmärkten, Abkehr vom System der internationalen Arbeitsteilung, Emanzipation der einheimischen Wirtschaften von den Diktaten der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, Annahme von sozialen und umweltlichen Verordnungen zur Einschränkung des internationalen Handelsverkehrs.

Es geht nicht darum, die Wirksamkeit des Markts zu leugnen, sondern festzustellen, daß er zur optimalen Verteilung der Ressourcen und der Güter (Problem der zahlungsunfähigen Nachfrage) nicht ausreicht und daß er im übrigen dazu neigt, der gesamten Gesellschaft sein Wertesystem spontan aufzudrängen ("Marktmonotheismus"). Um allmählich aus der doppelten Sackgasse herauszukommen, die die leistungsunfähige verwaltete Wirtschaft und die übermäßig wettbewerbsfähige Wirtschaft darstellen, gilt es am Rande der Staats- und der Privatwirtschaft einen tertiären Sektor (Verbände, Versicherungsvereine, Genossenschaften) sowie eigenständige Hilfsorganisationen (Austauschsysteme auf lokaler Ebene) zu stärken, die auf geteilter Verantwortung, freiwilligem Beitritt und Nichtprofit gründen.

10. Gegen den Gigantismus, für lokale Gemeinschaften

Der Trend zum Gigantismus und zur Zusammenballung erzeugt isolierte, also verwundbare und machtlose Menschen. Der allgemeine Ausschluß und die soziale Unsicherheit sind die logischen Folgen dieses Systems, das sämtliche Reziprozitäts- und Solidaritätsstellen niedergewalzt hat. Gegenüber den vertikalen Herrschaftspyramiden, die kein Vertrauen mehr erwecken, gegenüber den Bürokratien, die die Grenzen ihrer Kapazität immer schneller erreichen, treten wir in eine fließende Welt interaktiver Netze ein. Der frühere Gegensatz zwischen einheitlicher bürgerlicher Gesellschaft und monopolistischem Wohlfahrtsstaat wird allmählich überwunden durch das Entstehen eines ganzen Gefüges von Rechte gründende Einrichtungen und von beratenden sowie aktiven Verbänden. Diese Gemeinschaften entstehen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens: von der Familie bis zum Viertel, von dem Weiler bis zur Stadt, von dem Beruf bis zum Freizeitbereich usw. Nur auf dieser lokalen Stufe kann ein anspruchsvolles Dasein wiedergeschaffen werden, das heißt ein ganzes, nichtparzellenhaftes Dasein, das von den drückenden Zwängen der Geschwindigkeit, der Mobilität und der Leistung befreit ist, von geteilten Werten getragen wird und grundsätzlich auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist.

Die Solidarität darf nicht mehr als die Folge einer anonymen, vom Wahlfahrtsstaat (schlecht) gewährleisteten Gleichheit wahrgenommen werden, sondern als das Ergebnis einer Wechselbeziehung, die an der Basis von organischen Verbänden ins Werk gesetzt wird, wobei letztere die Aufgaben des Schutzes, der Verteilung und der Gerechtigkeit übernehmen. Nur verantwortungsbewußte Personen in verantwortungsbewußten Gemeinschaften können eine soziale Gerechtigkeit errichten, die nicht mit Unterstützung gleichbedeutend ist.

Die Rückkehr zum Lokalen, die unter Umständen durch die gemeinsame Telearbeit erleichtert werden kann, ist geeignet, den Familien ihre natürlichen Aufgaben der Erziehung, der Sozialisierung und der Unterstützung zurückzugeben und somit die Verinnerlichung von sozialen Verhaltensregeln zu ermöglichen, die heute ausschließlich von außen auferlegt werden. Die Wiederbelebung der lokalen Gemeinschaften muß auch mit einer Wiedergeburt der volkstümlichen Traditionen einhergehen, deren Verfall oder, schlimmer noch, deren Vermarktung die Moderne hervorgerufen hat. Indem sie das harmonische Zusammenleben, die Geselligkeit und den Sinn für Feste pflegen, prägen die Traditionen Rhythmen ein und liefern Bezugspunkte. Sowohl die Alter- als auch die Jahreszeiten und die großen Augenblicke des Lebens rhythmisch betonend, nähren sie die symbolische Vorstellungswelt und pflegen die soziale Bindung. Sie sind niemals erstarrt, sondern in stetiger Erneuerung.

11. Gegen die Trabantenstädte, für Städte menschlichen Ausmaßes

Der Städtebau steht seit fünfzig Jahren unter der Herrschaft des Häßlichen, des Unsinns oder des Kurzfristigen: Schlafstädte ohne Horizont, Einfamilienhaus-Viertel ohne Seele, graue, scheußliche Hochhausvorstädte, die als städtische Schuttabladeplätze dienen, Einkaufszentren, die den Stadtrand entstellen, Wucherung der anonymen "Nichtorte", die für eilige Verbraucher bestimmt sind, Innenstädte, die ausschließlich dem Handel ausgeliefert sind und um ihr traditionelles Leben (Cafés, Universitäten, Theater, Kinos, grüne Anlagen usw.) gebracht wurden, Nebeneinanderreihung von Wohngebäuden ohne gemeinsamen Baustil, Viertel, die zwischen notdürftigem Flickwerk verkommen oder die von Wächtern bzw. Kameras ständig bewacht werden, Entvölkerung der ländlichen Gegenden und städtische Übervölkerung.

Es werden keine Wohnstätten mehr zum Leben gebaut, sondern zum Überleben in einer städtischen Umgebung, die das Gesetz der Höchstrentabilität und der rationalen Funktionalität entstellt hat. Nun aber muß ein Ort in erster Linie eine Bindung sein: arbeiten, fahren, wohnen bezeichnen keine einzelnen Funktionen, sondern vielschichtige Handlungen, die das gesamte gesellschaftliche Leben betreffen.

Die Stadt muß neu gedacht werden als Treffpunkt aller unserer Möglichkeiten, als Labyrinth unserer Leidenschaften und Handlungen, statt als der geometrische und kühle Ausdruck der planenden Rationalität. Architektur und Stadtplanung ordnen sich außerdem in eine besondere Geschichte und Geographie ein, die sie widerspiegeln sollen. Dies erfordert die Aufwertung eines verwurzelten, harmonischen Städtebaus, die Rehabilitierung der regionalen Lebensstile, die Entwicklung der Weiler und mittleren Städte zu einem Netz um die Landeshauptstädte, die Herauslösung der ländlichen Gegenden aus der Abgeschlossenheit, die allmähliche Zerstörung der sogenannten Schlafstädte sowie der rein geschäftlichen Zusammenballungen, die Abschaffung einer allgegenwärtigen Werbung sowie ein vielfältigeres Angebot an Verkehrsmitteln: Abschaffung der Vormachtstellung des Privatwagens, Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene, Wiederbelebung der öffentlichen Verkehrsmittel, Berücksichtigung der ökologischen Erfordernisse.

12. Gegen die Dämonie der Technik, für eine umfassende Ökologie

In einer begrenzten Welt können nicht alle Kurven ständig steigen: Die Ressourcen ebenso wie das Wachstum stoßen irgendwann zwangsläufig an ihre Grenzen. Die rasche Verbreitung des westlichen Produktions- und Verbrauchsstands auf der ganzen Welt würde in wenigen Jahrzehnten zur Erschöpfung nahezu aller verfügbaren natürlichen Ressourcen und zu einer Reihe klimatischer und atmosphärischer Katastrophen mit unvorhersehbaren Folgen für das Menschengeschlecht führen. Die Verunstaltung der Natur, die exponentielle Verarmung der Biovielfalt, die Entfremdung des Menschen durch die Maschine, die Verschlechterung unserer Ernährung stellen zur Genüge unter Beweis, daß "immer mehr" nicht zwangsläufig mit "immer besser" gleichzusetzen ist. Diese Bilanz, die ebenso mit der Ideologie des Fortschritts wie mit jeder linearen Auffassung der Geschichte unmißverständlich bricht, haben die ökologischen Bewegungen zu Recht aufgestellt. Sie erfordert von uns, daß wir uns unserer Verantwortung gegenüber der organischen und der anorganischen Welt, innerhalb deren wir uns bewegen, bewußt werden.

Die "Megamaschine" kennt nur das Prinzip der Rentabilität. Wir müssen ihr das Prinzip der Verantwortung entgegensetzen, das den jetzigen Generationen gebietet, so zu handeln, daß die künftigen Generationen eine Welt erfahren, die nicht weniger schön, nicht weniger reich und nicht weniger vielfältig als die ist, die wir gekannt haben. Gleichermaßen muß der Vorrang des Seins vor dem Haben bekräftigt werden. Eine umfassende Ökologie muß aber auch zur Überwindung des modernen Anthropozentrismus und zum Bewußtsein einer Mitzugehörigkeit von Mensch und Kosmos aufrufen. Diese immanente Transzendenz macht die Natur zum Partner, und nicht zum Gegner bzw. zum Objekt. Sie verwischt nicht die spezifische Besonderheit des Menschen, sondern spricht ihm die ausschließliche Stellung ab, die ihm das Christentum und der klassische Humanismus verliehen hatten. Der ökonomischen Hybris und dem technischen Prometheismus setzt sie den Sinn für Maß und die Suche nach Harmonie entgegen. Eine weltweite Anstrengung ist geboten, um zwingende Normen festzusetzen in Sachen Erhaltung der Biovielfalt – der Mensch hat auch Pflichten gegenüber den Tieren und den Pflanzen – und Verringerung der Umwelt- und Luftverschmutzung. Die umweltverschmutzenden Unternehmen oder Körperschaften müssen in Höhe ihrer Altlasten besteuert werden. Eine gewisse Entindustrialisierung des Lebensmittelsektors müßte die einheimische Produktion und den einheimischen Verbrauch fördern, ebenso die Breitfächerung der Versorgungsquellen. Die Systeme, die die zyklische Erneuerung der natürlichen Ressourcen wahren, müssen in der Dritten Welt geschützt und in den "hochentwickelten" Gesellschaften vorrangig umstrukturiert werden.

13. Für die geistige Freiheit und eine Rückkehr zur geistigen Auseinandersetzung

Unfähig, sich zu erneuern, ohnmächtig und enttäuscht angesichts des Mißerfolgs seines Projekts, hat sich das niedergehende moderne Denken allmählich in eine echte Gedankenpolizei verwandelt; sie soll alle, die von den Dogmen der herrschenden Ideologie abweichen, exkommunizieren. Selbst die früheren "reuigen" Revolutionäre haben sich dem an der Macht befindlichen System angeschlossen, wobei sie von ihrem früheren Engagement die Liebe zur Säuberung und Verdammung bewahrt haben. Dieser neue "Verrat" stützt sich auf die Diktatur einer öffentlichen Meinung, die von den Medien geformt wird, und zwar mit den Mitteln der reinigenden Hysterie, der lindernden Überempfindlichkeit/Gefühlsduselei oder der selektiven Entrüstung. Anstatt daß man das kommende Jahrhundert zu verstehen sucht, werden überholte Themen bis zum Überdruß wiederkäut, werden Argumente wieder verwertet, die nichts anderes als Mittel zum Diskreditieren und Ausschließen sind. Die Beschränkung des Politischen auf die bestmögliche Verwaltung eines zunehmend problematischen Wachstums schließt im übrigen eine Wahlentscheidung zugunsten einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft oder gar einfach die Möglichkeit einer offenen Diskussion über die höchsten Zwecke des kollektiven Handelns aus.

Auf diese Weise wird die demokratische Debatte zunichte gemacht: Es wird nicht mehr diskutiert, sondern verurteilt; es wird nicht mehr argumentiert, sondern beschuldigt; es wird nicht mehr bewiesen, sondern aufgezwungen. Jedes Denken, jedes Werk, das der "Abweichung" oder des "Abdriftens" verdächtig ist, wird der bewußten oder unbewußten Sympathie für Ansichten bezichtigt, die als Schreckbilder hingestellt werden. Unfähig, ein eigenes Denken zu entwickeln oder das der anderen zu widerlegen, machen die Zensoren inzwischen auch auf die Hintergedanken Jagd. Dabei vergißt man die normalen Regeln der geistigen Auseinandersetzung. Man vergißt, daß die Meinungsfreiheit, deren Untergang einfach hingenommen wird, grundsätzlich keine Ausnahme duldet. Man befürchtet die Wahlentscheidungen des Volkes, verachtet seine Bestrebungen und Sehnsüchte und zieht ihnen die Ignoranz der Massen vor.

Um diese bleierne Kappe abzuschütteln, befürwortet die Nouvelle Droite eine Wiedergeburt des kritischen Denkens und tritt für eine uneingeschränkte Meinungsfreiheit ein. Gegen jegliche Zensur, gegen das Wegwerfdenken und die Oberflächlichkeit der Moden beteuert die Nouvelle Droite mehr denn je die Notwendigkeit einer Rückkehr zu einer echten Arbeit des Denkens. Sie kämpft für eine Rückkehr zur geistigen Auseinandersetzung, und zwar jenseits der alten Trennungslinien, die die querverbindenden Wege und die neuen Synthesen hemmen. Sie ruft zur gemeinsamen Front der frei Denkenden gegen die Erben Trissotins, Tartuffes und Torquemadas auf.

Alain de Benoist (in Zusammenarbeit mit Charles Champetier)

1 Autor und Übersetzer sind der Auffassung, daß die "Nouvelle Droite" sich in vieler Hinsicht von der deutschen Neuen Rechten unterscheidet, und haben deshalb den Begriff "Nouvelle Droite" belassen.

2 Einbeziehung sozialer Bedürfnisse des Menschen bei der Planung von Arbeitsplätzen

Aufstand der Kulturen: In einer neu geschaffenen Reihe "EDITION JUNGE FREIHEIT" veröffentlicht die JF das neue Buch von Alain de Benoist mit dem soeben in Paris verabschiedeten Manifest der Nouvelle Droite (Neuen Rechten). Wir veröffentlichen vorab einen Auszug aus dem Manifest. Das Buch (240 S., Pb., DM 34,–, ISBN 3-929886-04-9) ist über den JF-Buchdienst und alle Buchhandlungen zu beziehen. Die JF stellt die Thesen der Nouvelle Droite zur Diskussion und wünscht eine kontroverse Debatte.

 

Alain de Benoist, geboren 1943 in Saint-Symphorien (Indre-et-Loire) lebt als Journalist in Paris und gilt als der Begründer und führende Theoretiker der Nouvelle Droite (Neuen Rechten) in Frankreich. Benoist studierte Jura, Philosophie und Theologie. Er ist Chefredakteur der Zeitschriften Nouvelle École und Krisis und Autor von über vierzig Büchern. In deutscher Sprache erschienen u. a. "Die entscheidenden Jahre – Zur Erkennung des Hauptfeindes" (1982), "Aus rechter Sicht" (2 Bände, 1983 und 1984), für die er von der Academie Française mit dem Großen Essay-Preis ausgezeichnet wurde, "Kulturrevolution von rechts – Gramsci und die Nouvelle Droite" (1986), "Demokratie. Das Problem" (1986) .


 
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