© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/99 01. Oktober 1999


Goethe-Jahr: Eine Jubiläums-Auskehr in fünf Teilen
Krämerseelen und Kleingeister
Götz Kubitschek

1. Das Dümmliche bildet den Hintergrund: Ex-Bundespräsident Roman Herzog plazierte ein Haar in der Festsuppe, als er in seiner Ansprache zur Goethe-Feier dem Dichter mangelndes Demokratieverständnis vorwarf. Vom "Fürstenknecht" sprach er, vom Spitzel und Denunzianten, und zeigte damit, daß sein Redenschreiber die aktuellen Goethe-Debatten verfolgt hatte: Sie drehen sich um W. Daniel Wilsons Hetzbuch "Goethe-Tabu". Hier wird in verschachtelten Sätzen aus dem Herzogtum Carl Augusts von Weimar ein Terrorregime; Goethe kommt die Rolle des Blockwarts zu. Vielleicht sah unser Herzog (Roman) darin so etwas wie seine staatsbürgerliche Pflicht, nach den großgepumpten Aufrufen zur Bildungsoffensive und zu mehr Leistungsbereitschaft schnell den Riegel vor die nun drohende Persönlichkeitsverehrung zu schieben: Wer Goethe liest, muß den Fürstenknecht mitlesen. Dümmlich, wie gesagt, aber bezeichnend.

Den politisch korrekten Bundespräsidenten greift Achatz von Müller in der Zeit vom 26. August auf und zitiert passend dazu den hellsichtigen Goethe zur verlogenen Pressefreiheit: "Kommt, laßt uns alles drucken/ Und walten für und für;/ Nur sollte keiner mucken,/ Der nicht so denkt wie wir."

2. Geschickter als Herzog ging Bertold Brecht vor. Er kritisierte Goethes berühmtes "Über allen Gipfeln ist Ruh", in dem es am Schluß heißt: "Die Vögelein schweigen im Walde". So vermag man, meinte Brecht sinngemäß, nur zu schreiben, wenn man mit vollem Magen und als Fürstenknecht ohne Sorgen durch die Natur tändeln kann. Brecht kreidete Goethe ein solches Naturempfinden bei vollem Magen an.

Gegen diesen mächtigen Vorstoß findet Goethe im emeritierten Freiburger Ordinarius Gerhard Kaiser einen klugen Verteidiger. Kaiser zitiert in der Badischen Zeitung vom 28. August schöne Naturlyrik von Brecht und schreibt: "Dort, am Scharmützelsee in der Märkischen Schweiz, besaß er ein Refugium, denn er war ein Privilegierter des SED-Regimes wie Goethe des Duodezabsolutismus. Sehr subtil, sensibel, ruhevoll, gebildet auch diese Verse. Angestimmt, während Menschen in Kriegen starben, im Archipel Gulag oder im Gelben Elend von Bautzen verdarben, irgendwo verhungert, gefoltert, vergewaltigt wurden." Kaisers Gegenstoß trifft, läßt Brecht verstummen und warnt vor dem Pauschalurteil. "Nicht nur Brecht, auch Goethe kannte den Riß in der Welt."

3. Dazu kann man auch Rolf Vollmann lesen (Neue Zürcher Zeitung, 28. August): Vollmann fragt, ob Goethes Charakter tatsächlich so schlecht gewesen sei, wie alle meinen. Er listet dann zuerst die Vorwürfe auf. Feige sei Goethe gewesen, oder mit anderen Worten: ein Fürstenknecht (Herzog). Dann entlarvt Vollmann die Kritiker: "Sie setzen nicht nur ein Bewußtsein voraus, das damals in Goethes Lage niemand haben konnte und jedenfalls keiner hatte, sondern sie verkennen ganz, welches klug unangepaßte Bewußtsein Goethe wirklich besaß und dort auch durchzusetzen verstand, wo er gerade in kleineren menschlichen Fragen zu entscheiden hatte." Ähnlich elegant und deutlich begegnet Vollmann weiteren Angriffen gegen Goethes Charakter und faßt dann zusammen, "daß wir, immer dann, wenn uns Leute begegnen, die deutlich größer sind als wir, sehr bald jene Seiten an ihnen suchen, an denen sie uns doch wenigstens ähnlich wären".

4. Den wichtigsten Artikel hat Manfred Osten beigetragen. Er steht in der Zeit vom 26. August und trägt die Überschrift "Die beschleunigte Zeit". Osten geht der menschlichen Ungeduld nach, die Goethe schon früh als Grundübel ausmachte und für die er das Wort "veloziferisch" (teuflisch-gehetzt) erfand. Osten gelingt es meisterlich, diesen grünen Zweig Goethes mitten in die Ökologiedebatte unserer Zeit hineinwachsen zu lassen. Goethe nahm wahr, daß in der ganzen Betriebsamkeit und Hektik der aufbrechenden Moderne keine Zeit mehr bleiben würde für die Reifung wichtiger Entscheidungen. Das bedächtige Fortschreiten der Entwicklung wird ersetzt durch radikale Umbrüche. Die Folgen daraus hat Goethe im "Faust II" benannt: Irrtum und Gewalt, die beiden großen Phänomene aller Übereilungen. Manfred Osten nennt den "Faust" deshalb ein "seismographisches Frühwarnsystem", und sofort läßt sich die Parallele zu Ernst Jünger ziehen. Auch ihn nannte ein verständiger Kopf (Niekisch) einen Seismographen, und Jünger selbst griff auf dieses Bild zurück, um die Kurzsichtigkeit der Kritiker zu kennzeichnen, die nach einem Erdbeben auf den Seismographen einschlügen. Auch auf Goethe wurde posthum eingedroschen, weil er Philemon und Baucis als Opfer des Fortschritts sterben ließ. Manche Kritiker verziehen ihm (Faust) das nicht. Dabei hat Goethe nur prognostiziert, was heute wuchert: überhandnehmendes Maschinenwesen, Raubbau, Planierung, wodurch alles zur Münze wird und nichts ohne Vermarktung bleibt. Goethe stellte damals – angesichts des technischen Aufbruchs – die Frage nach Flucht oder Mitläufertum: "Ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen, die besten und Würdigsten mit sich fortzuziehen und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen."

Eine Antwort konnte Goethe nicht geben, und die Frage nach Flucht oder Mitläufertum stellt sich nicht mehr so recht, weil es ein "jenseits der Meere" nicht mehr gibt. Oder ist es heute als Haltung gefragt: Nachfolge Goethes im Sinne einer Verlangsamung aller Lebensprozesse? Weitung der Gegenwart durch Geduld und ruhige Anschauung? Allgemeinbildung als Gegengewicht zur (hochbeschleunigten) Spezialisierung, der alle Zeit und alle Fähigkeit zur reifenden Zusammenschau fehlt? Manfred Osten hat Wichtiges geleistet, indem er auf diese zentralen Gedanken Goethes verweist und sie in den Brennpunkt unserer Gegenwartskritik stellt.

5. Zuletzt greife ich ein paar Reaktionen auf, die meine Überlegungen zu Goethes "Prometheus" und zum "Tasso" auslösten (JF 35/99): Es ging um die Entwicklung von Bedingungslosigkeit zur Einsicht in Notwendigkeiten. Da wurde der Vorwurf des Rückzugs laut, des nahtlosen Einlaufens in den biedermeierlichen Hafen: So kann aber nur jemand lesen, der am Tage zehnmal mit dem Kopf gegen die Wand rennt und von allen anderen dasselbe fordert. Das ist zwar auch ein Ausdruck von Unbedingtheit, aber einer, der nicht besonders lange Bewunderung hervorruft. So sei noch einmal betont: Zwischen Einsicht in Notwendigkeiten und geistigem Ruhestand liegt ein weites Feld.


 
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