© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/99 01. Oktober 1999


Kenneth Lewan: Jakobs Bericht und andere Erzählungen
Erlebtes und Gesponnenes
Rolf Stolz

Kenneth Lewan, 1925 in Chicago geboren, emeritierter Professor, Politologe und Jurist, sollte als Wissenschaftler und kritischer Analyst des Zeitgeschehens eigentlich ein Begriff sein. Aber auch wer seinen Namen schon gehört hat, weiß meist nicht, daß dieser nüchterne und seriöse Wissenschaftler – Prototyp eines linksintellektuellen, weltoffenen Ostküsten-Demokraten – auch Sinn und Herz für die schöne Literatur hat, Prosaisches und Texte für das Theater schreibt. Überhaupt vereinigt Kenneth Lewan auf eine wunderliche und wunderbare Weise auch sonst manches scheinbar Unvereinbare: In seiner Noblesse, Bescheidenheit und Friedfertigkeit das genaue Gegenteil des Zerrbildes vom "häßlichen Amerikaner", hat er sich stets vehement gegen das dümmliche Vorurteil des von Natur aus bösartigen Deutschen zur Wehr gesetzt. Er, der aufgrund seiner schweren Verwundung im Zweiten Weltkrieg allen Grund zur Bitterkeit gegenüber den Deutschen gehabt hätte, lebt schon lange in Deutschland und ist mit einer Deutschen verheiratet. Er kennt und liebt Deutschland mehr als so mancher der hier Geborenen und hat sich – eine Zeitlang übrigens als Mitglied der Grünen – seit vielen Jahren für die Einheit und Freiheit seines zweiten Vaterlandes engagiert. Mit derselben Uneigennützigkeit und Entschlossenheit hat er als amerikanischer Patriot die Ideale der Unabhängigkeitserklärung und der vielen Bürgerrechtsbewegungen verteidigt gegen all die Machthabenden, die den amerikanischen Traum in einen globalistisch-imperialistischen Alptraum verwandelt haben. Unvergeßlich ist mir, mit welchem Mut er Mitte der achtziger Jahre in Bonn das Anliegen der Friedensvertragsinititative gegenüber amerikanischen Botschaftsvertretern verfochten hat, die sichtlich not amused waren.

In seiner ersten größeren belletristischen Veröffentlichung hat Kenneth Lewan "Erlebtes und Gesponnenes aus Amerika und Deutschland" zusammengetragen. In sechs Erzählungen schlägt er einen weiten Bogen: Vom Zweiten Weltkrieg zurück in die dreißiger Jahre und vorwärts in die Gegenwart, vom Pazifik über seine Geburtsstadt Chicago auf die Schlachtfelder des Hürtgenwaldes, von dort in das zwischen Palästinensern und Israelis zerrissene Jerusalem und dann – in den letzten Geschichten des Bandes – in geographisch unbestimmte, aber offenkundig heimatlich-deutsche Gefilde. Es findet sich Idyllisches wie in der Abschlußerzählung "Der Fund", in der ein Gelehrter im Gespräch mit einem Zeitungsausschnitt herausfindet, wieviel es ihm hilft, nicht im Papierwust unterzugehen, sondern sich jener Frau zuzuwenden, die für die schönen Dinge – körperliche Zärtlichkeit, Blumen, Musik – steht. In der Erzählung "Mildernde Umstände" entgeht ein alter Mann nur knapp dem Schicksal, durch Egoismus und Altersstarrsinn als eine Art König Lear sich selbst und die Liebe seiner Tochter zu verlieren. Diese beiden Prosastücke, eher zeitlos-allgemeingültig gehalten, lassen die Abgründe im Menschen und die politisch-historischen Abgründe außen vor, die aber in anderen Erzählungen um so präsenter sind und um so prägnanter dargestellt werden.

Gleich zu Anfang des Buches stoßen wir in "Spieler" auf einen Soldaten, der als eine Art militärischer Unterführer den Ich-Erzähler zu demütigen und in sein übles Spiel einzubinden versucht. Trotz des ermutigenden Schlusses – der Held erweist sich als Held, zeigt Mut und Bereitschaft, auch die unausweichlichen Konsequenzen zu tragen – wird etwas Beängstigendes deutlich: Die ständige Bedrohung des Menschen durch den Menschen, die permanente Gefahr, entweder als willenloser Kollaborateur oder als wehrloses Opfer unter den Schlitten zu kommen.

Im militärischen Milieu spielt auch "Der Goldfasan", aber nicht wie "Spieler" am Rande des pazifischen Kriegsgeschehens, sondern an vorderster Front, im November 1944 im Hürtgenwald, wo ein sinnlos-erbitterter deutscher Widerstand die vorrückenden Amerikaner aufzuhalten versucht. In dem Soldaten Martin Lightfoot hat Kenneth Lewan den Leichtsinn, die Eitelkeit und die hoffnungslose Naivität jenes jungen Mannes porträtiert, der er selbst damals war. Es wird deutlich, daß es gerade solche Eigenschaften sind, die von den Heerführern und ihrer Kriegsmaschinerie ausgenutzt werden, um über Akteure zu verfügen, die nur zu bald zum Opfer auserkoren sind. In Zeiten der Balkan- und Kaukasuskriege ist das ebenso aktuell wie "Jakobs Bericht", den ein Israeli, der als Deutschlandexperte des Amtes für Öffentlichkeit vorgestellt wird, über den Besuch einer deutschen Delegation in seinem Land abgibt. In diesem Bericht werden wirklichkeitsnah verschiedene Typen porträtiert: Von der dreist-verlogenen Politikerin Hildegard B. (offenkundig nach dem Vorbild Hamm-Brüchers modelliert) über kriecherisch-anpasserische Theologen und zynisch-geldgeile Wirtschaftsmanager reicht das Spektrum bis hin zu einer jungen Frau, die sich wie der Israeli Jakob offen auflehnt gegen die Zumutung, wegen der Verbrechen der Nazis die Verbrechen der israelischen Regierung zu tolerieren. Auch wenn hier für meines Erachtens die Personen zu stark Rollenträger und Sprachrohre sind und zuwenig individuelles Leben gewinnen – reich an Gesichtspunkten und Stoff zum Nachdenken ist auch dieser Text.

Ein kleines Meisterwerk ist die Geschichte "Gemeinsamkeiten", deren autobiographische Bezüge der Autor selbst in einem Interview mit der Zeitschrift Frieden 2000 aufgedeckt hat. Sein Vater, ein selbständiger Werbegestalter, wurde durch die Weltwirtschaftskrise in den Bankrott und in den Wahnsinn getrieben. Es scheint, daß die seelische Verletzung des Sohnes durch den Verlust des Vaters einen noch tieferen und noch unheilbareren Einschnitt bedeutet hat als die eigene Kriegsverwundung 14 Jahre später. Meisterhaft ist schon der kühle und spröde Beginn der Geschichte, aber wie Kenneth Lewan in den Briefen zwischen Mutter und Sohn eine längst verflossene (und doch angesichts der heutigen Krisen merkwürdig vertraute) Epoche wiederbelebt, zeugt von außerordentlicher Gestaltungskraft. Wer Geschichten mit Sinn und Verstand liebt, wer sich ein Gespür bewahrt hat für menschliche Werte jenseits der multimedialen Müll-und Blubberkultur, der wird dieses Buch gern und mit Gewinn lesen. Rolf Stolz

 

Kenneth Lewan: Jakobs Bericht und andere Erzählungen. Jahn & Ernst Verlag, Hamburg 1999, 107 Seiten, 34,80 Mark


 
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