© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/99 01. Oktober 1999


PDS: Erfahrung entzaubert Utopie
von Siegmar Faust

Vor aller Welt Augen zerbrach 1989 die Berliner Mauer, und die "Diktatur der Arbeiter und Bauern" fiel in sich zusammen. Zu Mord und Totschlag kam es, Gott sei Dank, nicht; Hunderttausende mehr oder weniger Betroffene durften inzwischen in die 180 Kilometer lange Aktenhinterlassenschaft des einst mit polizeilichen Machtmitteln ausgestatteten Ministeriums für Staatssicherheit blicken.

Die im Wesen bis zuletzt leninistisch-stalinistisch gebliebene SED ist nicht nur für über 900 an den Grenzen Umgekommenen, viele schuldlos Enteignete und Zwangsausgesiedelte, eine Viertelmillion politischer Häftlinge oder für über vier Millionen aus ihrer angestammten Heimat in Richtung Westen Geflohene verantworlich, sondern auch für das Einmauern der Bevölkerung und die kulturelle Entwurzelung ganzer Generationen. Weiterhin ist dieser Parteiführung der Zerfall der Infrastruktur, die Verwahrlosung der Industriebetriebe, auch der Städte und Dörfer, und die Zerstörung der Natur in Rechnung zu stellen. Das finanzielle und wirtschaftliche Desaster des gesamten "Ostblocks" ermöglichte neben anderen begünstigenden Momenten die von einem großen Teil der Bevölkerung getragene, dennoch von nur wenigen Reformern angestoßene, schließlich von Massen auf der Straße ausgelöste "friedliche Revolution". Der im Osten wie im Westen als Überraschung erlebte Zusammenbruch der DDR, der zwar von vielen erfahrungsbeladenen Botschaftsbesetzern und Flüchtlingen, aber nur von Ausnahmen unter Geisteswissenschaftlern vorausgesehen, von Geheimdienstern gar übersehen und mit Konsequenz nur von wenigen Politikern gewünscht worden war, ließ die meisten Deutschen in einen Freudentaumel fallen. Schon in diesem Taumel mutierte die SED, nach dem Abschlacken der zwei Millionen Mitläufer, mit ihrem Vermögen, der eingeübten Parteidisziplin, dem weichen Kern der Utopisten und dem knochenharten der Marxisten-Leninisten zur PDS, zur "Partei des Demokratischen Sozialsozialismus". Ausgerechnet diese Partei der ehemaligen Machthaber gab sich anschließend auf Wahlplakaten als "starke Opposition für die Schwachen" aus.

Im zehnten Jahr nach der deutschen Einigung fragt man sich verwundert: Wo haben die Deutschen eigentlich ihr Gedächtnis abgegeben? Die SED/PDS sitzt in Fraktionsstärke im Bundestag. Neben dem "Magdeburger Modell", also der Tolerierung der SPD-geführten Minderheitsregierung durch die PDS, gibt es seit 1998 noch das "Schweriner Modell", in dem sich umbenannte Kommunisten an der Landesregierung beteiligen. In der Koalitionsvereinbarung wurde in bekannter Einseitigkeit festgeschrieben: "SPD und PDS werden den politischen Extremismus, insbesondere den Rechtsextremismus, sowie dessen Ursachen bekämpfen." Den grausamen Kampf der Linksextremisten nach der Vereinigung zwischen KPD und SPD gegen die Sozialdemokraten scheint es nie gegeben zu haben. Die für viele Menschenrechtsverletzungen verantwortliche SED/PDS wird heute auf dem Gebiet der ehemaligen DDR von einem Viertel der Wähler, den meisten Medienverantwortlichen und vielen Politikern als eine normale Partei angesehen.

Der Vorstoß der rechtspolitischen Sprecherin der PDS-Bundestagsfraktion, nicht nur eine Amnestie rechtsstaatlich und glimpflich verurteilter Exzeßtäter des DDR-Unrechtsregims zu fordern, sondern obendrein noch 600 Mark Entschädigung für jeden Haftmonat, bestätigt lediglich, was über diese Partei gewußt werden kann. Da hilft es auch nicht, daß Gregor Gysi zugibt, daß "eine Amnestie eine Haftentschädigung ausschließt", denn entlarvend ist seine Begründung: "Wer letzteres will, müßte eine Art Rehabilitierungsgesetz fordern, und das ist in Anbetracht der Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik völlig illusorisch." Wer zweifelt denn daran, daß sich das Kräfteverhältnis in diesem unserem Land nicht noch weiter zugunsten der Linken aller Schattierungen verschieben wird? Das Rechtsverständnis dieser Bundesrepublik macht’s möglich: Erich Mielke, die Inkarnation des kommunistischen Humanisten, der, obwohl er ja alle Menschen liebt, mehrere Menschen mit kurzem Prozeß ins Jenseits beförderte, sogar eigenhändig, bekommt Haftentschädigung und Erstattung der Anwaltskosten. Geist und Buchstaben des Gesetzes können nicht weiter auseinanderklaffen. Wo solches Unrecht siegt, haben Geist und Anstand abgedankt.

Die Vorsitzenden verschiedener Opferverbände konnten nur noch eine sarkastische Erklärung absetzen: "Die ehemaligen politischen Häftlinge des Kommunismus begrüßen ausdrücklich die – überdies höhere – Entschädigung der Untersuchungshaft in einem demokratischen Gefängnis an den früheren Stasi-Minister Erich Mielke, weil damit letzte politische Klarheit über der Behandlung der geschundenen Opfer Mielkes in Deutschland hergestellt worden ist."

Wenn schon die Bemühungen "völlig gescheitert" sind, wie der Berliner Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen zugab, den Terror der Stasi-Zersetzungsmaßnahmen mit Mitteln des Rechtsstaates zu ahnden, dann läßt sich immerhin ahnen, wie der Versuch, die Regierungskriminalität der DDR juristisch aufzuarbeiten, gelungen sein kann. Von rund 23.000 eingeleiteten Verfahren wurden 21.500 im Laufe der Ermittlungen eingestellt. Bei etwa 400 Verfahren wurde Anklage erhoben, bei 200 Personen kam es zu einer rechtskräftigen Verurteilung auf Bewährung. Lediglich 25 Personen, darunter ein einziger Menschenschinder unter den ehemaligen Zuchthauswärtern, mußten bisher Haftstrafen antreten; freilich nicht unter jenen unsäglichen Bedingungen, die man als politischer Häftling der SBZ oder DDR auszuhalten hatte.

Was meinen solche "Bürgerrechtler" wie Schorlemmer, die angesichts der ohnehin faktischen oder schleichenden Amnestie immer wieder eine solche für die Handvoll äußerst milde Verurteilten fordern, von denen außer Günter Schabowski kaum einer Reue zeigt? Oder gar Amnestie des übelsten Verrats von Nato-Geheimnissen an gefährliche Feinde der Demokratie durch hochdotierte Beamte, für die sich leider auch der Schriftsteller Martin Walser einsetzte? Oder was bezwecken solche PDS-"Demokraten" und ehemaligen Stasi-Zuarbeiter wie Gysi, die demagogisch den Begriff "Siegerjustiz" strapazieren?

Ungestört dürfen deshalb PDS-Funktionäre Maueropfer verhöhnen und behaupten, daß die "Grenzgänger, die den Staat geschädigt haben", die Ursache des Mauerbaus gewesen seien. Nicht die Mörder, nein, die Ermordeten sind wieder einmal schuldig. Eine Lieblingsautorin der PDS-Genossen, Kurt-Tucholsky-Preisträgerin Daniela Dahn, bisher schon mehrmals durch obskure Demokratiekritik aufgefallen, mutet ihren Mitmenschen, um nur ein Beispiel zu bringen, in geistiger Bescheidenheit diesen Systemvergleich zu: "Mit Blick auf die von mir erlebte poststalinistische DDR und die finanzstalinistische BRD scheint mir: Die Summe der Repression ist immer gleich."

Könnte es noch Menschen mit einem differenzierteren Unterscheidungsvermögen und einer etwas anderen Sicht auf die untergegangene DDR geben? Hatte die Mangelgesellschaft des "ersten Friedensstaates auf deutschem Boden" etwa keinen Überfluß politischer Gefangener? Mit ehemals Betroffenen, mit Opfern, gar mit solchen, die sich dem "Reich des Bösen" entronnen glauben, beschäftigt sich heutzutage kaum jemand gern, wenn sie sich nicht als Opfer des Faschismus oder Kapitalismus ausgeben lassen. Weil die Nachvollzugsfähigkeit abgestumpft ist, hat sich den Opfern der zweiten Diktatur gegenüber eine Teilnahmslosigkeit breit gemacht, die zwar gelegentlich Brosamen abwirft und von den Empfängern zu Recht als Hohn empfunden wird.

Mit der PDS hingegen geht es bergauf, wie die letzten Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern wieder zeigten, sogar schön paradox: "Sie verliert Mitglieder und gewinnt Wähler; ihre Mitgliedschaft wird älter, ihre Wählerschaft jünger" (Eckhard Jesse). Karl Marx, der ideologische Säulenträger der PDS, hätte seine helle Freude an diesem dialektischen Irrsinn. Es wäre zu billig, diejenigen mit der politisch korrekten "Faschismuskeule" niederstrecken zu wollen, die wie der sächsische Justizminister Steffen Heitmann wissen, daß nicht nur der nationalsozialistischen Ideologie Gewalt innewohnt, sondern auch der marxistischen, "allerdings nicht so vordergründig. Dies deshalb nicht, weil sie davon ausgeht, daß das Sysem geradezu prädestiniert ist, grundsätzlich allen Menschen irdisches Glück zu verschaffen und sich im geschichtlichen Entwicklungsprozess zwangsläufig als überlegen erweisen werde. Sobald aber die Wirklichkeit den Trugschluß dieser Annahme offenbart, ist auch die kommunistisch-leninistische Ideologie zu brutaler Gewalt bereit und zum Erhalt der Macht sogar auf sie angewiesen."

Das zweifelhafte Vergnügen, Wirklichkeit auszublenden und die Welt durch eine ideologische Brille zu betrachten oder von Utopien, also von Traum- und Theoriegebilden beherrscht zu sein, wird erkauft durch die zunehmende Unfähigkeit, eigener Erfahrung zu trauen, Erfahrung überhaupt noch mit eigenem Geist, Körper und seiner Seele erlangen zu wollen. Das bedeutet, man lernt immer weniger aus der Geschichte für seine Geschichte; es findet selten noch Bereicherung des Lebens durch eigene Erfahrung statt. Obwohl wir in Deutschland vom Kindergarten bis zur Seniorenakademie mit Lehrstoff auf- und abgefüllt werden, lernen wir kaum noch, etwas nachzuvollziehen, was wir nicht selber erfahren können. Wirklichkeit wird weniger durchlebt oder nacherlebt, als vielmehr definiert, so daß sich der Erfahrungsverlust von Generation zu Generation vergrößert, wenn es zu keiner Umkehr kommt. "Erfahrung aber", so gibt der skeptische Gegenwartsphilosoph Odo Marquard zu bedenken, "ist das Remedium gegen Weltfremdheit, und zwar, wenn ich es richtig sehe, das einzige. Weil aber heute die Dementierkraft der Erfahrung zunehmend leerläuft, verliert das Realitätsprinzip in wachsendem Maß die Chance, sich geltend zu machen; das bedeutet unter anderem: Man wird nicht mehr wirklich erwachsen, und Infantilisierungen beherrschen dann zunehmend die Szene."

Aus der Herkunft soll keine Zukunft keimen, hoffen jene, die deutsche Geschichte bewußt auf den nationalsozialistischen Holocaust reduzieren. So soll uns wieder einmal die Droge Erwartung nähren, die sich, unbelastet von Erfahrung, süffisant ins Illusionäre verflüchtigt, um uns ins Künftige, also ins Letzte und Fernste, zu verführen. Die Sehnsucht nach der heilen Welt treibt die zunehmend erfahrungsloser werdenden Zeitgenossen wieder in absehbare Katastrophen, denn der Teufelskreis ist vorgezeichnet: Alle Erwartungen werden unter dem Prinzip Hoffnung zu einer Totalerwartung uniformiert, die erhaben über individueller Befriedigung oder wirklicher Enttäuschbarkeit steht. Sie hält uns weiterhin, obwohl uns kaum noch Grenzen gesetzt sind, vom Erfahren der Welt ab und erniedrigt uns zum großen Erwartenden. Zuvor muß freilich die Welt, besonders die uns faßbare, derart klein gemacht worden sein, daß aus diesem madigen Apfel nicht nur die große Erwartung, sondern vor allem Dauerempörung quillt. So fädelt sich die kleine Schlange aus dem Kernprinzip "Hoffnung" ins faule Fleisch der Erfahrungsresistenz und schleimt sich durch die Illusionen ins Reich der Unbelehrbarkeit. Hier sitzen die mittlerweile regierenden und auch sonst gut versorgten Utopiegläubigen um Blochs rostigen Fahnenmast versammelt und kauen ihre Illusionen durch, bar jeder Selbstkritik, für die sie unempfänglich geworden sind. So wie 1932 der damalige SPD-Abgeordnete Kurt Schumacher schon die Nationalsozialistische Partei durchschaute, der "zum erstenmal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen" sei, könnte sich heute von der PDS sagen lassen, daß es ihr gelingt, vor allem politikunfähige Kräfte, seien es zu unerfahrene Jugendliche, utopieverblendete Intellektuelle oder die ehemaligen Kader der Honecker-Diktatur, zum Kampf gegen die bürgerliche Zivilisation zu rüsten. Wer kann nur dem faulen Zauber glauben, daß sich diese Partei, wenn sie wieder an der Macht ist, selber entzaubert? Sie kann nur die Politikverdrossenheit bis zum Erbrechen steigern helfen.

Wer kann mit gutem Gewissen diesen durch zwei Gesinnungsdiktaturen in Deutschland begünstigten Erfahrungsschwund und die sich zuspitzende Erwartungskrise noch aus- oder gar aufhalten? Irmtraut Hollitzer vom Leipziger Bürgerkomitee, die dort in den Originalräumen der einstigen Stasi-Bezirksverwaltung die über die Grenzen Leipzigs hinaus bekannte Ausstellung "Stasi – Macht und Banalität" betreut, sagt: "Je weiter wir uns von 1989 entfernen, um so häufiger wird gefragt werden: was war damals, wie geschah es und wo geschah es? In Leipzig, wie auch anderswo, wurden die Orte, in welchen das Unrecht ausgeklügelt bzw. wo es praktiziert wurde, fast alle bis zur Unkenntlichkeit schönsaniert. Es braucht aber eine Form demokratischer Erinnerungskultur."

Aus diesem Grunde sei es den Politikern ins Stammbuch geschrieben, daß es um der Erhaltung und Stärkung der Demokratie willen nötig ist, authentische Orte des einst real existierenden Sozialismus, wie Stasi-Untersuchungshaftanstalten, Zuchthäuser, Jugendwerkhöfe, Grenzübergangsstationen, aber auch Archive und Ausstellungen zum "gewöhnlichen Sozialismus" großzügig zu untersützen. Joachim Gauck, Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Staatssicherheit, sagte treffend: "Unsere Geschichte muß nicht nur in die Köpfe, sondern auch in die Herzen der Menschen gelangen. Die Opfer haben ein Anrecht darauf, daß wir die Erinnerung wachhalten."

 

Siegmar Faust, 55, Schriftsteller, wurde in der DDR zweimal wegen "staatsfeindlicher Hetze" zu Gefängnisstrafen verurteilt und 1976 von der Bundesregierung freigekauft. Im Westen arbeitete er zunächst als freier Publizist. Von 1996 bis zu diesem Frühjahr war er Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. In der JF 37/99 veröffentlichte er ein Plädoyer für den Fortbestand der Gauck-Behörde .


 
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