© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/99 08. Oktober 1999


Totaler Liberalismus
von Reinhart Maurer

Der Sozialismus siegt", war eine der Parolen, die einem in der DDR auf Schildern und Spruchbändern überall begegneten. Gegen Ende dieses Staates hatte ein DDR-Bürger mit Sinn für die Ironie der Geschichte ein solches Schild in Magdeburg, wo der Zug von Berlin nach Westdeutschland auf den schlechten Gleisen ganz langsam fahren mußte, so an eine Mauer gelehnt, daß die Reisenden es in aller Ruhe studieren konnten.

Der Sozialismus hat also nicht gesiegt, sondern der Liberalismus, der schon dem Namen nach Freiheit verheißt. Und seitdem kann man aus der welthistorisch siegreichen Position heraus die unterlegene von ihren philosophischen Anfängen bis zu ihrem heutigen Rest bequem verurteilen. Man kann vom unguten Einfluß Hegels auf Marx in der Frage der Menschenrechte reden und kann die liberalismuskritische Bewegung des Kommunitarismus, die neuerdings – unter Bezugnahme auf Hegel (Charles Taylor) – innerhalb des angelsächsischen Liberalismus selbst aufgebrochen ist, mit den alten kommunistischen Verheißungen in Verbindung bringen und dadurch diskreditieren. Wissenschaftlich verantwortungsvoller wäre es freilich, näher zuzusehen, was Marx an den Menschenrechten, so wie sie damals in Nordamerika und Frankreich verstanden worden waren, kritisiert: daß sie nämlich die Menschen vor allem als egoistische Atome sichern. Und philosophischer wäre es, Hegels (ähnlich schon Hobbes‘) Warnung in Sachen Freiheit zu beherzigen: "daß sie ein unendlich vieldeutiges Wort ist, daß sie, indem sie das Höchste ist, unendlich viele Mißverständnisse, Verwirrungen, Irrtümer mit sich führt und alle möglichen Ausschweifungen in sich begreift".

Nicolás Gómez Dávila, ein neuerer libaralismuskritischer Philosoph, schreibt in diesem Sinne sehr plausibel: "Die Freiheit vedient lediglich den Respekt, den die Tätigkeit verdient, in die sie mündet". Und welches die Haupttätigkeit in der modernen liberalistischen Gesellschaft als System der menschenrechtlich garantierten Bedürfnisse ist, spricht er sicher übertreibend, aber tendenziell richtig an, wenn er sagt: "Von den ‚Menschenrechten‘ verteidigt der moderne Liberalismus schon nur mehr das Recht auf Konsum."

Denn wenn die groben Formen von Menschenrechtsverletzungen beseitigt oder zumindest unter Strafe gestellt sind, geht es in der modernen Gesellschaft primär um eines: formal um das Recht auf Konsum für alle, inhaltlich um die Verteilung der Beute aus wissenschaftlich-technisch-ökonomischer Naturbeherrschung. Und darum ging es auch schon Marx, nämlich um die Gefahr, daß in der liberalistisch/kapitalistischen Gesellschaft die zu immer mehr Konsum unendlich offene Bedürfnisnatur des Menschen, also "die Notwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres (der Individuen) Eigentums und ihrer egoistischen Person", zum einzigen Band wird, das die Gesellschaft zusammenhält – einem Band, das auch reißen kann, wenn die stets wachsenden Ansprüche, aus welchem Grund auch immer, nicht wachsend befriedigt werden können.

Drei Hauptpunkte sind auszumachen, wenn man die Marxsche Kritik aufs Prinzipielle zurückführt und sie damit von ihrer marxistischen Versteinerung erlöst:

1) Marx betont (überbetont?) den Aspekt der materiellen, ökonomischen Bedingtheit – jedoch mit dem Ziel, diese Bedingungen menschlichen Lebens in den Griff zu bekommen, damit sie nicht die ganze Gesellschaft primär bestimmen wie im Liberalismus/Kapitalismus.

2) Dieser wird kritisiert als ein chaotisches Wuchern der Bedürfnisse der Individuen in Konkurrenz untereinander. Dadurch werden die menschlichen Triebkräfte so zugerichtet, daß sie den Motor abgeben für einen zum uferlos expansiven Selbstlauf losgelassenen Prozeß der Produktion und Konsumtion.

3) Der liberalistische Mangel an Gemeinsinn und damit an vernünftiger Kultur der Bedürfnisse führt zu einer Spaltung der Gesellschaft in Atome und darüber hinaus auch zu einer Spaltung dieser Atome zwecks Freisetzung ihrer pleonektischen Kräfte. Die Gesellschaft als System der Bedürfnisse wird in "totaler Mobilmachung" (Ernst Jünger) die immer hektischere Vernetzung dieser Partialbetriebe, in die sich die immer individualistischeren Individuen auflösen. Die zwischenmenschlichen Verhältnisse tendieren so zu kommunikationsloser Kälte (mit allerlei elektronischem und massenmedialem Ersatz sowie Gemeinschaftssuche bei Sekten), und der gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur wird ruiniert. Es gibt bei Marx Ansätze zum Verständnis materieller als ökologischer Bedingtheit.

Wenn man den Marxismus so auffaßt, führt man ihn zurück auf seinen ursprünglichen, vernünftig-kritischen Kern. Man aktualisiert ihn, während man ihn zugleich von seinen überschwenglich utopischen Momenten reinigt. Der Gegensatz, in dem er als Sozialismus oder Kommunismus (Betonung des bonum commune, des koinón, des Gemeinsamen, Gemeinschaftlichen) zum Liberalismus mit seiner Tendenz zur Atomisierung steht, wird deutlich, während zugleich die Züge des Marxismus hervortreten, die ihn mit dem Liberalismus verbinden, nämlich die technochiliastischen. Wie Hans Jonas gesehen hat, wird im Marxismus zur expliziten Utopie, was im Liberalismus eine implizite ist: das ursprünglich Baconsche Programm einer endgeschichtlich befriedigten Gesellschaft auf der Basis perfekter wissenschaftlich-technisch-ökonomischer Naturbeherrschung. Der Marxismus verspricht in diesem Sinne das Reich der Freiheit nach einer totalen Umorganisation des Reiches der Notwendigkeit, der Arbeit, der Produktionsverhältnisse. Und dazu sind nach ihm – leider – zunächst einmal revolutionäre Gewalt und staatlicher Zwang bis hin zu Gängelung von Kunst und Philosophie nötig. Zur Herbeiführung der Zustände, die schließlich die Abschaffung des Staates ermöglichen sollen, bedarf es vorerst eines besonders starken und allgegenwärtigen Staates.

Dieser tückischen Weg-Ziel-Dialektik, die völlig offen läßt, wann das endgeschichtliche Heil beginnt, entgeht der Liberalismus, indem er realistischer, pragmatischer, effizienter, gegenwärtiger ist auf der Linie einer Karl Popperschen Strategie der kleinen Schritte. So kann er sagen: paradise now – Freiheit gibt es jetzt schon nach der Formel: Technik und Demokratie. Das heißt: Alle oder die meisten bestimmen – im Rahmen einer repräsentativen und Parteien-Demokratie und einer angeblich offenen Öffentlichkeit – mit bei der Verteilung der wissenschaftlich-technisch-industriell rasant fortschrittlich produzierten Güter. Der Liberalismus beansprucht, nach Möglichkeit das schon gegenwärtig zu realisieren, was Friedrich Engels als Ideal vorschwebte, nämlich die Ersetzung jeder Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Verwaltung von Sachen. Er realisiert – soweit möglich – Selbstbestimmung und Mitbestimmung aller, ist als technisch und sozialtechnisch höchst potente Demokratie das System, in dem WIR – idealerweise – gemeinsam überlegen und diskutieren, "wie wir leben möchten, wenn wir im Hinblick auf gemeinsame Potentiale herausfänden, wie wir leben könnten"(Jürgen Habermas).

Die Konjunktive in dieser Formulierung repräsentieren die Reste Kritischer Theorie, d.h. auch marxistisch kritischer Theorie. Denn der Marxismus weist im Anschluß an Hegel auf den wunden Punkt, daß jenes WIR faktisch dazu tendiert, in Atome auseinanderzufallen. Und eine von Max Weber ausgehende Liberalismuskritik könnte außerdem geltend machen, daß die Atome sich faktisch nicht kommunikativ koordinieren, sondern durch technische Beherrschung auch menschlicher Natur, also sozialtechnisch, koordiniert werden, sich weniger demokratisch selbst bestimmen, als vielmehr technokratisch/bürokratisch bestimmt zu werden. Der Übergang von der Herrschaft über Menschen zur Verwaltung von Sachen kann bedeuten, daß dann die Menschen wie Sachen mit- verwaltet werden.

Der Marxismus hat eine kritische und eine utopische Seite, und die Maßstäbe seiner Kritik stammen nicht bloß aus der Utopie, sondern auch aus realistischer Erfassung der Probleme, aus konkreter Negation wirklicher Negativität, das heißt wirklicher Gefahren und Mißstände der modernen Gesellschaft. Indem man diese kritische Seite betont und sie gegen die utopische Seite sowohl des Marxismus wie des Liberalismus ausspielt, kann man urteilen: Es besteht ein Zusammenhang zwischen Utopismus und Dogmatismus.

Die Überschwenglichkeit der neuzeitlichen Utopie, also des Traums von einer Menschheit als endgeschichtlicher Brüder- und Schwesterngemeinde der Freien und Gleichen auf der Basis perfekter, das heißt faktisch unendlich progressiver Bedürfnisbefriedigung durch rechnisch-ökonomische Naturbeherrschung, macht sowohl den Sozialismus wie den Liberalismus in der Theorie dogmatisch und in der Praxis totalitär. Dabei ist die liberalistische Form desselben, falls sie nicht aus sich heraus Gegenkräfte entwickelt, längerfristig sogar die gefährlichere, da ihre vielen kleinen Schritte in dieselbe Richtung im Endeffekt einen ganz großen Schritt ergeben. Sie ist gefährlicher, weil sie technisch-ökonomisch pragmatischer und effizienter ist sowie attraktiver in Sachen Freiheit, zumal Konsumfreiheit. Sie gewährt erfolgreich gegenwärtige Möglichkeiten als Köder für immer mehr. An sich jedoch, das heißt solange die Tabus der political correctness nicht alle kitzligen Probleme zudecken, ist westlicher Liberalismus auch freier im Punkte Kritik und Selbstkritik unter Einbeziehung marxistischer Ansätze, und darin liegt (ein bißchen) Hoffnung.

Marxismus, politisch verkörpert im sowjetrussischen Imperium, und Liberalismus, verkörpert im nunmehr alleinigen moralisch-politisch-ökonomischen sowie (multi)kulturellen Führungsanspruch der USA, sind – von Hegel her gesehen – gleichermaßen verwerfliche Versuche, absolute Politik zu treiben, nämlich im Namen des Weltgeistes als dessen Geschäftsführer, wobei freilich der Hegelsche, immer auch religiöse Geist, nach ihm zum technisch-demokratisch-moralischen Fortschritt der Menschheit säkularisiert worden ist. Ein ursprünglich verstandener und zeitgemäß angewandter Marxismus kann in Verbindung mit einem entsprechenden Hegelianismus dazu beitragen, den Pferdefuß dieser schönen neuen Welt zu erkennen, ihre universalistisch-moralistische Heuchelei und zunächst verdeckte Dialektik, die dann zu plötzlichen Umschlägen ins Gegenteil führt.

Das intendierte Universale und angemaßt Endgeschichtliche kann eben nur auftreten in jeweils konkreten, besonderen, beschränkten und damit immer auch problematischen Gestalten, und diese haben bis auf weiteres nationalen Charakter. Ihr Universalitätsanspruch ist ebenso richtig wie falsch, und als endgeschichtlicher Menschheitsbeglückungsanspruch auf jeden Fall Hybris. Der Liberalismus in seiner gegenwärtigen, am US-amerikanischen Vorbild orientierten Form ist nicht die endgeschichtliche Wahrheit als prinzipiell realisierte Freiheit, wie der Name "Liberalismus" suggeriert, sondern er ist eine derzeit (noch) in Blüte stehende Gestalt der Freiheit mit ihren Stärken und Schwächen.

 

Prof. Dr. Reinhart Maurer, 64, studierte Philosophie, Deutsch und Englisch. Er promovierte mit einer Arbeit über Hegels "Phänomenologie" und habilitierte mit einer Untersuchung zum Thema "Politeia und Leviathan". Seit 1975 lehrt er am Institut für Philosophie der FU Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: "Hegel und das Ende der Geschichte" (1965, 1980), "Platons ’Staat‘ und die Demokratie" (1970), "Jürgen Habermas’ Aufhebung der Philosophie" (1977). In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er 1995 über "Kapitalismus und Ökologie".


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen