© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/99 08. Oktober 1999


Theater: Schlingensief
Deutschlandsuche
Magnus Meurer

Auf einer düsteren Bühne lautes Herumgeschreie. Zwei Dutzend Gestalten sitzen in einem Pulk auf hölzernen Bänken, ihren Blick auf vermeintliche Köche gerichtet, die ein Mahl zubereiten wollen. Es ist von Zutaten die Rede. Plötzlich taucht auf der riesigen Bühne eine weitere Gestalt auf, mit weißem Bart, knallrotem Schlips, roten Hosenträgern und einem verschmitztem Lächeln. Er gibt sich als "Meir Mendelssohn" zu erkennen. Ein spärlich bekleidetes Mädchen windet sich um ihn, beginnt ihn zu küssen. Dann beginnt Mendelssohn zu erzählen, bedauert, daß die Deutschen zusammenzucken, wenn das Wort "Jude" fällt, läßt sich über "den kriminellen Bubis" aus, der mit dem Zahngold jüdischer Opfer gehandelt habe, und spricht über "die Machenschaften" des Frankfurter Immobilienhändlers. Eine weiße Leinwand wird mit schwarzer Farbe bespritzt. So habe er, Mendelssohn, dessen Grab geschändet. Konsternierte Gesichter. Betretenes Schweigen.

Das meist junge Publikum, das am vergangenen Sonntag im Hamburger Schauspielhaus Schlingensiefs Theaterprojekt "Deutschlandsuche 99" über sich ergehen läßt, weiß nicht recht den Auftritt zu bewerten. Der Berliner Theaterprovokateur geht in die Offensive, läßt das Bühnenpublikum über die wahre Identität Mendelssohns abstimmen. Auch das führt zu keinem befriedigenden Ergebnis.

Ein weiterer Provokateur betritt das Rampenlicht, mit wallendem Haar, in schneeweißem Anzug: Rainer Langhans. Schlingensief stellt dem Herausgeputzten Fragen. Der Mitbegründer der "Kommune I" gibt spärlich und unsicher Antwort. Das kann von "Dr. O" schwerlich behauptet werden. Der als "Hamburger Dutschke" vorgestellte Reinhold Oberlercher bleibt keine Antwort schuldig. Ein Angriffskrieg wie der gegen Serbien würde in "seinem Reich" mit hohen Zuchthausstrafen geahndet. Dann, kopfgesteuert wie eh und je, referiert er seine Reichsverfassungsordnung. Spricht davon, daß "wir das Reich in seinen alten Grenzen wieder herstellen" müssen. Langhans aufgewacht: "Sehen wir erst einmal zu, dieses Deutschland aufzuräumen." Im Publikum wieder Unverständnis. Erste Zwischenrufe: "Nazis raus". Kartoffelchips fliegen gegen den Gescholtenen.

Nicht anders ergeht es Horst Mahler. Ausführlich breitet sich das Ex-RAF-Mitglied über die "heutige Situation der BRD als US-Vasallenstaat" aus. Die "Ausländerüberflutung" sei eine fortgesetzte Besetzung. Zwischenrufe aus dem Publikum: "Abbrechen, abbrechen". Ein Schauspieler der Berliner Volksbühne in blütenweißem Anzug und mit wilder Struwwelpeterfrisur springt auf Mahler zu. Antwortet den "Nazis raus"-Rufen mit "Nazi, Nazi". Tumult bricht los. Mahlers linke Gesichtshälfte wird mit schwarzer Farbe beschmiert. Dieser zeigt keinerlei Regung. Der Volksbühnenmann rast wie von einer Tarantel gestochen im Zickzack über die Bühne, hinein in den Zuschauermenge. Schwärzt sich nun selbst das Gesicht. Vielleicht aus Solidarität mit den Schwarzen? Mahler, nun mit schwarzer Gesichtshälfte, setzt seine Rede fort, unterbrochen von "Horch, was kommt von draußen rein". Kreischende Zwischenrufe aus dem Publikum. Schlingensief verteilt Farbspritzen. Jeder solle nun denjenigen schänden, den er nicht mag. Mendelssohn begreift nicht recht, begrüßt Mahler, diskutiert mit ihm. Mehl geht auf sie nieder. Die Schreier verlassen den Theatersaal. Das Publikum drängt auf die Bühne, diskutiert mit den Geächteten – bis Mitternacht.


 
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