© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/99 15. Oktober 1999


Neue Rechte: Der italienische Politikwissenschaftler Marco Tarchi über die italienische Parteienlandschaft und den Einfluß neuer Strömungen auf die traditionelle Rechte
"Viele Menschen akzeptieren, daß man sie der Rechten zurechnet"
Peter Boßdorf

Herr Tarchi, der alte Parteienfilz ist in Italien verschwunden, aber ein neuer trat an seine Stelle: Warum gab es keinen fundamentalen Neuanfang?

Tarchi: Die Transformation des italienischen Parteiensystems ist kein fortschreitender Reifungsprozeß gewesen, sondern durch außergewöhnliche äußere Faktoren angestoßen worden. Wäre der "Tangentopoli"-Skandal nicht hochgekocht, jene Fälle von Korruption also, die von der Mailänder Staatsanwaltschaft aufgedeckt wurden, dann hätte sich die Parteienlandschaft bis heute nicht einmal oberflächlich verändert.

Es hat sich gezeigt, daß die Bande des Klientelsystems stärker waren als die Unzufriedenheit der Bürger mit der Verschwendung und der Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung. Erst als die Führungsetagen einiger traditioneller Parteien – Christdemokraten, Sozialisten, Liberale, Republikaner und Sozialdemokraten – in Folge von gerichtlichen Untersuchungen dezimiert wurden, haben sich die Italiener bereit gefunden, ihre Wahlpräferenzen zu überdenken.Aber sie haben es im allgemeinen mit "neuen" Parteien zu tun, die nichts anderes sind als Reinkarnationen jener, die vorher existierten. Auch in den politischen Formationen, die, wie Forza Italia von Berlusconi, neu entstanden, sind viele der Führungskräfte ehemalige Angehörige der alten politischen Klasse, die man in aller Eile recycelt hat.

Es hat in Italien Kräfte gegeben, die für einen grundsätzlichen Politikwandel standen: früher die Radikalen, dann die Grünen und auch die Lega Nord. Warum waren sie so wenig erfolgreich?

Tarchi: Es handelt sich hier um drei sehr unterschiedliche Phänomene. Die Radikalen hatten in den siebziger Jahren Erfolg, weil sie die Korruption der Systemparteien öffentlich machten und sich für die Bürgerrechte einsetzten – Ehescheidung, Abtreibung, sexuelle Freiheit und so weiter. Sie verkörperten die individualistischen Forderungen des linken Liberalismus, der in Italien nie Raum zum Atmen gehabt hatte, weil er durch das Gewicht der beiden großen Parteien, Kommunisten und Christdemokraten, und durch die sozialistische Tradition erstickt wurde. Als sie versuchten, mehr humanitaristische, mehr altruistische Themen in den Mittelpunkt zu stellen, wie zum Beispiel den Kampf gegen den Hunger in der Welt, hat sie ein großer Teil ihrer Wählerschaft verlassen. Um wieder erfolgreich zu sein – bei den Europawahlen am 13. Juni mit der Liste von Emma Bonino – mußten sie zu ihren ursprünglichen Positionen zurückkehren: Kampf gegen die öffentliche Finanzierung der Parteien, ökonomische Deregulierung, Opposition gegen die Bürokratie.

Die Grünen, die 1985 begonnen haben, auf eigene Faust an Wahlen teilzunehmen, mußten dafür bezahlen, daß sie mangelhaft organisiert sind. Einerseits gerieten sie so in die Hände einer Führungsgruppe, die von der Ultralinken kam – was das Mißtrauen von moderaten Wählern weckte, die eigentlich für ökologische Probleme sensibilisiert waren. Andererseits wurde es den traditionellen Parteien ermöglicht, in ihre potentielle Anhängerschaft mit "ökologischen" Programmen einzubrechen, die natürlich bloß auf genau diesen Zweck zugeschnitten waren.

Die Lega Nord entstand schnell und zugkräftig gegen Ende der achtziger Jahre. Sie verkörperte den Protest der "produktiven" Regionen des Nordens gegen "das diebische Rom" – das heißt die Korruption des Staates – und gegen den "parasitären" Süden – das heißt gegen einen Süden, der unfähig zu einer selbständigen Entwicklung ist, die ohne Subventionen durch den Gesamtstaat auskäme. Das Auftreten der Lega war wichtig, um jenen Veränderungsprozeß in Bewegung zu setzen, der mit "Tangentopoli" die Krise der alten Machtstruktur herbeigeführt hat. Die plebejischen Töne aber, die Umberto Bossi als eine Art absoluter Diktator der Lega anschlägt, haben ihm zwar die Zustimmung sozialer Unterschichten gebracht, sie haben jedoch einen Teil des norditalienischen Bürgertums verschreckt, das die Lega wählte, solange Berlusconi Forza Italia noch nicht gegründet hatte. Nun haben sie das Pferd gewechselt. Die Konkurrenz durch Forza Italia hat die Lega dazu gezwungen, immer schärfere Töne von sich zu geben – bis hin zu der Drohung, den Norden vom Rest Italiens abzuspalten. An diesem Punkt kam es zu Auseinandersetzungen in der Partei und zu Abspaltungen. Die Wahlergebnisse brachen ein.

Welche Perspektiven hat die Lega Nord noch nach dem Debakel der Europawahlen? Gibt es noch jemanden, der das Projekt "Padania" ernst nimmt?

Tarchi: Die Lega durchlebt eine schwierige Phase, aber ihre Krise versetzt ihr wahrscheinlich nicht den Todesstoß. Vor allem in den kleinen Städten und in den Dörfern des Nordens erntet sie mit ihrer Kritik am System und mit ihrer Rhetorik des "Nordens" eine Menge Zustimmung. Ihr Vorteil, aber zugleich eine Beschränkung ihrer Möglichkeiten, ist es, daß sie sich nicht um die Einteilung nach den Kategorien "links" und "rechts" schert und daß sie sich nicht in die "römische" Politik einmischt, das heißt in jene der traditionellen Parteien. Um so fortfahren zu können, müßte die Lega aber wieder die stärkste Partei des Nordens werden, wie sie es bei den Wahlen des Jahres 1996 gewesen ist. Da sie schwächer geworden ist, schwindet ihr Erpressungspotential, und sie ist gezwungen, Allianzen zu suchen – auf der Rechten oder auf der Linken, was wiederum in jedem der beiden Fälle einen Teil der Wähler unzufrieden macht. Umfragen zufolge glauben im Augenblick weniger als 20 Prozent der Bewohner des Nordens an die Möglichkeit einer Abspaltung. "Padania" ist also eher ein identitätsstiftender und mobilisierender Mythos für die Aktivisten der Lega als ein effektives Instrument in der politischen Auseinandersetzung.

Prodi ist der Chef der neuen EU-Kommission, in Italien scheint die europäische Integration beliebt zu sein. Warum gab es so wenig Widerstand gegen den Euro – selbst auf der Rechten?

Tarchi: Italien ist immer das Land mit der größten Zustimmung zum Projekt der europäischen Einheit gewesen. Wahrscheinlich glauben die Italiener, daß der Eintritt – und der Verbleib – in Europa es erlauben, das Effizienzniveau der öffentlichen Betriebe und der Verwaltung zu verbessern, ein Niveau, das heute niedrig ist und dem Standard der besser entwickelten Länder angenähert werden soll. Gegenüber Europa gibt es allein das Mißtrauen, das die Menschen gegenüber jeder Innovation entwickeln, die Opfer mit sich bringen könnte. Wie sollte man aber eine Verteidigung der Lira erwarten, die in den vergangenen zwanzig Jahren die instabilste und inflationärste Währung im Europäischen Währungssystem gewesen ist?

Die Linke regiert, D’Alema ist Regierungschef. In welcher programmtischen Verbindung steht seine Politik zur kommunistischen Partei von einst? Wie steht die PDS zu ihrer eigenen Vergangenheit und zum historischen Kommunismus?

Tarchi: In Italien ist eine Mitte-Links-Regierung an der Macht, das heißt eine Koalition, in der die Mitte, wenn auch zersplittert in eine große Zahl von kleinen Parteien, kein geringeres Gewicht hat als die Linke: Deshalb wird die Partei der Demokratischen Linken (PDS) immer moderater in ihrem Programm – so weit sogar, daß Gianni Agnelli, der Eigentümer von Fiat, erklären kann, daß in Italien "nur die Linke eine Politik der Rechten machen kann". Das kommunistische Programm ist unterdessen fast vollständig vergessen. Spuren der Vergangenheit findet man zwar noch in der Kultur der Partei und in der Erinnerung vieler Aktivisten, die dominierende Tendenz aber ist jene des Gedächtnisschwundes. Der derzeitige Parteisekretär der PDS, Veltroni, hat sogar erklärt, daß er sich immer als Antikommunist gefühlt hat, wenn er sich den Zustand der osteuropäischen Länder vor dem Fall der Mauer vor Augen führte. Aus diesen Worten spricht sicherlich eine propagandistische Absicht, aber auch – und ich würde sagen: vor allem – der Eindruck einer Niederlage des kommunistischen Modells vor der Geschichte, an der nun nicht mehr zu rütteln ist.

Ein Wandel auch auf der Rechten: Wie war es möglich, daß der Movimento Sociale Italiano (MSI) oder die Alleanza Nazionale (AN) aus der politischen Isolation entkam?

Tarchi: Das hat man der Krise der Christdemokraten zu verdanken, verursacht durch die Inhaftierungen, Verdächtigungen und Korruptionsprozesse, denen viele ihrer Führungsleute unterzogen wurden. Ganz plötzlich hatte die konservative und antikommunistische Öffentlichkeit niemanden, den sie wählen konnte, vor allem in den Regionen Mittel- und Süditaliens – im Norden gab es ja die Lega. Um der Linken den Weg zur Macht zu versperren, hat sie sich dem MSI zugewandt und ihm einige große Erfolge bei den Gemeindewahlen von 1993 beschert – zum Beispiel jene fast 35 Prozent von Rom. Als Berlusconi beschloß, in die Politik zu gehen, mußte er somit nicht mehr machen, als sich mit den Neofaschisten zu verbünden, die wiederum, um sich ein akzeptableres Image zu geben, beschlossen, sich in die moderatere AN zu verwandeln.

Wie geht die AN mit ihrer Parteigeschichte um, wie steht sie zum historischen Faschismus?

Tarchi: Das Neue an der Alleanza Nazionale kommt darin zum Ausdruck, daß zwei Drittel derjenigen, die ihr 1996, als sie mit 15,7 Prozent die größte Zustimmung erhielt, die Stimme gaben, niemals zuvor MSI gewählt hatten. Außerdem sind ihren Reihen viele ehemalige Funktionäre der Christdemokraten und aus Kleinparteien der alten Mitte (Sozialisten, Republikaner, Liberale und Sozialdemokraten) zugeströmt. Das Zusammenleben zwischen den Neuankömmlingen und der nostalgisch dem Faschismus verbundenen Basis war möglich dank der Wahlerfolge in den Jahren 1994 bis 1996 und wegen der symbolischen Weichenstellungen, die die Partei auf ihrem konstituierenden Kongreß im Januar 1995 vorgenommen hat. Auch wenn die Flamme des MSI im Parteiemblem blieb und sich die Parteispitze zu 90 Prozent aus der alten Führungsriege rekrutiert, hat die "neue" Partei erklärt, die Beweggründe des Antifaschismus anzuerkennen und sich von einigen ihrer traditionellen Ideen zu verabschieden, etwa vom Korporativismus.

Was den Faschismus betrifft, bezieht die AN eine bewußt zweideutige Position: In einigen Parteisektionen findet man an den Wänden immer noch Mussolini-Bilder, und die Jüngeren – wenn sie auch immer weniger selbständig und einflußreich sind – fahren fort, eine Ideologie zu kultivieren, die den europäischen Faschismus romantisch idealisiert – mit Leitbildern aus der "zweiten Reihe" wie Codreanu, Degrelle oder José Antonio. Die Parteispitze läßt sich hier auf nichts ein. Wenn sie durch Journalisten oder Fernsehreporter dazu ermuntert wird, zögert sie auch nicht mit gemäßigt antifaschistischen Bekenntnissen.

Auf jeden Fall wahrt die AN noch ein Profil, das deutlich unterscheidbar von jenem der Forza Italia ist. Sie mißtraut technokratischen Vorstellungen, hält an einem populistischen Stil fest und verfällt nicht in jenen des Politikmanagements. Sie setzt auf den Staat und ist weniger dem Individualismus zugeneigt. Sie widersetzt sich dem thatcheristischen Liberalismus der Berlusconi-Partei. Wie man eine rechte Identität wahren soll, ohne Einfluß im Bündnis des "Pols der Freiheit" zu verlieren, ist das große Dilemma, vor dem Fini steht: Mir scheint, daß er bis heute nicht weiß, wie er es lösen soll. Sicher ist aber, daß die AN das Rennen mit Forza Italia um die Wähler der Mitte im Augenblick jedenfalls verloren hat.

Die Witwe von Giorgio Almirante beklagte jüngst in "Il Giornale" die Auflösung von Parteistrukturen und einen Profilverlust der AN. Wie stark ist die AN noch im Verhältnis zum MSI von einst? Was will die AN? Was ist daran "rechts"?

Tarchi: Assunta Almirante ist sicher keine besonders genaue politische Beobachterin. Bereits die Strukturen des MSI waren weder besonders effizient noch machtvoll. Im Jahr 1991 behauptete man, 125.000 Mitglieder zu haben, aber es waren weniger als 30.000. Die Zahl der Parteisektionen lag bei kaum mehr als 2.000 – höchstens. Die AN hat diese Zahlen steigern können ohne das organisatorische Modell zu verändern. Was das ideologische Profil betrifft, so ist es in der Tat unpräziser geworden. Jenes aber, das ihm voranging und sich aus Nostalgie, einem eingefleischten Antikommunismus und einem rhetorischen Patriotismus speiste, war mit Sicherheit nicht geeignet für eine Kraft, die Regierungspartei sein wollte, was die AN im Jahr 1994 für acht Monate ja auch war.

Wer ist Finis Weg nicht mitgegangen? Welche Konkurrenz ist auf der Rechten für die AN entstanden?

Tarchi: Nur ein Teil des Flügels um Pino Rauti hat die Partei verlassen. Ein anderer Teil hat, angeführt von dem jungen Politiker Alemanno, innerhalb der AN einen Flügel begründet, den man als "soziale Rechte" bezeichnet. Andere wiederum haben sich, angeführt vom Chef der AN-Senatoren, Maceratini, auf die Seite von Fini geschlagen und verteidigen heute mit Macht die Allianz mit Berlusconi. Rauti hat den "Movimento sociale – fiamma tricolore" (MS-FT) gegründet, der bei den Europawahlen 1,8 Prozent der Stimmen und damit einen Sitz in Straßburg holte. Einen einzigen Vertreter hat er auch im italienischen Parlament, den Senator Caruso.

Es handelt sich um eine kleine, verstreute und wenig organisierte Partei, die dank der staatlichen Parteienfinanzierung über eine Tageszeitung, Linea, verfügt. Ihre Inhalte erschöpfen sich in einer nostalgischen Verehrung des Faschismus mit deutlich pathetischen Zügen. Eine Abspaltung des MS-FT hat sich am Modell Le Pen orientiert und den "Fronte nazionale" gegründet. Man versucht zu reüssieren, indem man den Protest gegen die Einwanderung auf seine Mühlen leitet und zugleich Sympathien für den islamischen Integralismus zeigt. Trotz eines ziemlich guten Ergebnisses bei den Provinzwahlen in Rom (1,3 Prozent) ist es nicht gelungen, eine Liste für die Europawahlen zu präsentieren – man hat eine sehr schwache Organisation.

Schließlich gibt es noch "Forza Nuova", eine Gruppe der extremen Rechten, die ihre Ursprünge in alten Formationen der achtziger Jahre hat, wie zum Beispiel "Terza Posizione", und den Skinheads nahesteht. Bei den Europawahlen trat sie mit Kandidaten auf einer Liste auf, die von einer folkloristischen Persönlichkeit, dem Ex-MSI-Mitglied, Abgeordneten und Ex-Bürgermeister von Tarent Giancarlo Cito, angeführt wurde. Das Ergebnis: 0,1 Prozent. Im Norden jedoch gibt es, mit ihren populistischen Tönen auf halbem Weg zwischen Le Pen und Haider, die Lega von Bossi, die der AN auf der Rechten Konkurrenz macht.

Die Europawahlen waren für die AN nicht erfolgreich. Wo liegen die Gründe? Hat die AN mit zehn Prozent ihre Möglichkeiten ausgeschöpft?

Tarchi: Man kann im Augenblick nicht sagen, daß die AN an die Grenze ihrer Möglichkeiten gestoßen wäre. Bei den Europawahlen hat sie verloren, weil sie im Namen des gemeinsamen Zieles einer Präsidaldemokratie eine Allianz mit einigen Ex-Christdemokraten und Ex-Radikalen eingegangen ist. Dadurch hat sie sich zu weit vom Image einer Rechtspartei entfernt, das sie immer gehabt hat. Zahlreiche Wähler wurden dadurch veranlaßt, sich der Stimme zu enthalten oder sie Forza Italia zu geben.

Das geistige Klima ist in Italien toleranter als in Deutschland und auch in Frankreich. Der "Antifaschismus" ist passé. Heißt das, daß auch die Neue Rechte mehr Möglichkeiten hat, Einfluß zu nehmen, sich in Debatten zu Gehör zu bringen?

Tarchi: Die Neue Rechte hat von dieser Situation profitiert. Schon seit den frühen achtziger Jahren gelingt es, eine Debatte mit Intellektuellen der Linken (Cacciari, Masini, Marramao) zu führen, die den Marxismus grundsätzlich kritisieren und das Denken von Nietzsche und der Konservativen Revolution einer neuen Bewertung unterziehen. Diese Debatte hat zu der Klärung geführt, daß die "Neue Rechte" mit der eigentlichen Rechten in politischen und kulturellen Fragen so wenig übereinstimmt, daß es absurd ist, dieses Etikett, das ihr von den Medien angehängt wurde, zu gebrauchen. Seit 1994 wird es in Italien nicht mehr als schändlich betrachtet, wenn sich jemand als "rechts" bezeichnet. Viele Menschen aus Politik und Kultur akzeptieren es, daß man sie der Rechten zurechnet. Was man eine Zeit lang als "Neue Rechte" bezeichnet hat, bevorzugt es aber, sich als "Kultur neuer Synthesen" zu definieren.

Der sogenannten Neuen Rechten ist es weder in Frankreich noch in Italien noch in Deutschland gelungen, das geistige Klima zu verändern. Sie hat nicht einmal die traditionelle Rechte prägen oder verdrängen können. Ist sie gescheitert?

Tarchi: Nein, diesem Urteil stimme ich nicht zu. Wenn die Neue Rechte nicht seit 25 Jahren ihre Rolle gespielt hätte, wären auf der Bühne der politischen Kultur nur noch zwei Ideologien aufgetreten: Liberalismus und Marxismus in ihren zahlreichen Versionen. Die Neue Rechte hat die einzige Herausforderung an die Hegemonie dieser beiden Denkströmungen dargestellt. Das konservative Denken, das in Deutschland seine Tradition und seine Würde hat, ist in Italien und in vielen anderen europäischen Ländern praktisch nicht vorhanden. Die anderen Denklinien, die aus der Rechten hervorgegangen sind, wie der Traditionalismus oder der revolutionäre Nationalismus, haben nur einen sehr geringen Einfluß auf die Neue Rechte gehabt. Alain de Benoist hat den Fehler begangen, auf manche Art und Weise hinzunehmen, daß man sich in einem politisch-intellektuellen Zusammenhang – jenem der Rechten – verortet, der die eigenen Ideen nicht positiv aufgreifen kann. Die Neue Rechte hätte mehr Raum zur Einflußnahme gewinnen können, wenn sie sich entschiedener von allem befreit hätte, was Kontinuität mit ihrer Vergangenheit bedeutete. Schließlich war sie aus einer grundsätzlichen Kritik am Milieu ihrer Herkunft und einer Verweigerung gegen dieses entstanden. Sie kann noch erfolgreich sein, wenn sie damit anfängt, sich von ihrem Etikett zu befreien und ihre Kritik an der "alten Rechten" zu logischen Konsequenzen führt. Es wäre Selbstmord, weiterhin neben der Rechten zu agieren, mit dem Ziel, sie zu beeinflussen. Übrigens zeigt die Neue Rechte schon heute mehr thematische Affinität zu manchen kulturellen, nicht-orthodoxen Strängen der Linken (konsequente Ökologie, Antiutilitarismus, Kommunitarismus) als zum Konservativismus.

Nach fast einem Vierteljahrhundert ist das inhaltliche Profil der Neuen Rechten immer noch – oder wieder – unklar. Was sind ihre Visionen, ihre essentiellen Vorstellungen für das 21. Jahrhundert?

Tarchi: Auch mit dieser Unterstellung stimme ich nicht überein. Erst vor kurzem haben die beiden wichtigsten treibenden Kräfte der französischen Neuen Rechten, Alain de Benoist und Charles Champetier, ein Manifest veröffentlicht, das unter dem Titel "Die Neue Rechte 2000" in sehr ausführlicher Weise Analysen, Vorschläge und Orientierungen für Gegenwart und Zukunft enthält. Ich bin persönlich mit einigen, aus heidnischen und exzessiv antimodernen Ideen gespeisten Thesen, die in diesem Manifest zum Ausdruck kommen, nicht einverstanden. Darüber verkenne ich aber nicht ihre Bedeutung und ihre Qualität. Die Neue Rechte hat ihre Ideen in verschiedenen Ländern Europa durch Dutzende von Zeitschriften und Büchern ausgedrückt: viele Tausend Seiten mit Essays, Artikeln, Interviews und Programmen. Man kann ihr vieles vorwerfen, nur nicht, daß ihre Vorstellungen vage wären.

Warum ist der Protest gegen die Marktwirtschaft, gegen das Ökonomische, gegen die Leistungsgesellschaft erloschen? Warum sind alle heute so systemkonform – und noch stolz darauf?

Tarchi: Das System der Kommunikation hat in seinem Einfluß auf die Bildung von Mentalitäten ein Niveau erreicht, das noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre. Es hat den konsumorientierten und hedonistischen Lebensstil als ein überlegenes Modell verordnet. Die gegenwärtige okzidentale Gesellschaft gründet auf Mechanismen der Imitation und der Mode: Ist ein hinreichendes Niveau des Wohlstandes für den größeren Teil der Bevölkerung erst einmal sichergestellt, übernehmen es Fernsehen und Zeitung, dem Bewußtsein den Eindruck einzuschärfen, in der besten der möglichen Welten zu leben. Die jüngeren Menschen wiederum sind am empfänglichsten für diesen propagandistischen Gebrauch der Massenmedien. Damit der Mechanismus fortfährt, die gewünschten Resultate zu produzieren, ist es natürlich nötig, daß keine schweren sozialen, ökonomischen oder moralischen Krisen dazwischentreten. Das ist die einzige Unbekannte. Sie bewahrt uns vor einer Zukunft des demokratischen Totalitarismus, der von einem Einheitsdenken aus utilitaristischem Liberalismus und kosmopoltischem Universalismus bestimmt wird.

Warum ist ausgerechnet die Linke heute den USA und dem Amerikanismus so freundlich gesonnen?

Tarchi: Die Vereinigten Staaten verkörpern, in den Stereotypen der okzidentalen Propaganda, die perfekte liberale Gesellschaft. Die Ausgegrenzten sind einfach die "Verlierer", die nicht den Nutzen aus den Möglichkeiten zu ziehen wußten, die ihnen das System bot, und die Dissidenten werden ersäuft in der Folklore der lunatic fringes. Die europäischen Länder haben bis heute keine unabhängige Identität auf der Basis ihres Kontinents entwickeln können. Ihre Bewohner erinnern sich an das Nationalbewußtsein nur dann, wenn sie Ferien im Ausland machen oder einem Fußballspiel beiwohnen. Sie wandeln im Schlepptau des American dream in vollständiger Bewußtlosigkeit. Sie akzeptieren die immer verheerendere Präsenz der Nato, die die Amerikaner in ihrer Rolle als Weltpolizei bestärkt, weil sie hoffen, auf eine eigene Armee verzichten zu können. Sie lassen sich von der Hollywoodkultur und allen ihren Untererzeugnissen in Besitz nehmen, weil sie unter einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber der "größten Weltmacht" leiden. Sie denken, daß sie sich mit dieser Untertänigkeit auf alle Zeiten Frieden und Komfort garantieren können. Sie ignorieren aber, daß Politik und Ökonomie erbarmungslosen Gesetzen folgen.

Es mehren sich die Zeichen der Feindseligkeit zwischen beiden Ufern des Atlantischen Ozeans, weil der amerikanische Appetit unersättlich ist. Die Zusammenstöße auf ökonomischem Terrain und die Spannungen zwischen Euro und Dollar sind ein bescheidener Vorgeschmack auf die Antagonismen der Zukunft. Die Geschichte, die Geographie und die Kultur prägen eine schicksalhafte, starke Konkurrenz zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Früher oder später werden auch unsere Völker, die heute noch durch den mächtigsten Mechanismus der Bewußtseinsbeherrschung, den die Menschheit jemals kannte, betäubt werden, darüber Klarheit gewinnen müssen.

 

Marco Tarchi, 47, lehrt Politische Wissenschaften an der Universität Florenz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die politische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts sowie Theorie und Praxis der iatlienischen Parteien. In seinem jüngsten Buch "Dal Msi ad An" (Il Mulino, 1997) hat er sich mit den Metamorphosen der postfaschistischen Rechten befaßt, sein aktuelles Interesse gilt der Lega Nord. Marco Tarchi zeichnet für die Zeitschriften Diorama Letterario (monatlich erscheinend, mit einem Schwerpunkt auf Rezensionen) und Trasgressioni (drei Ausgaben pro Jahr mit Essays zu politischen und philosophischen Themen) verantwortlich. Seine Bedeutung in der italienischen "Neuen Rechten" ist mit derjenigen Alain de Benoists in Frankreich vergleichbar. Weitere Informationen im Internet unter www.diorama.it


 
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