© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/99 15. Oktober 1999


Deutsche Einheit: Am 18. Oktober 1989 wird Honecker zum Rücktritt gezwungen
Die letzten Tage mit E. H.
Kai Guleikoff

Die SED-Führung war im Oktober 1989 entschlossen, die bereits seit einem Jahr geplanten Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR unverändert durchzuführen. Ein ungestörter Ablauf sollte innenpolitische Stabilität vortäuschen und eine immer noch bestehende Einheit zwischen Bevölkerung und Staatspartei öffentlich demonstrieren.

Honeckers erste Amtshandlung im Oktober bestand in der Genehmigung der Massenausreise für Botschaftsflüchtlinge aus Prag und Warschau. Damit sollte die angespannte innenpolitische Lage entlastet werden. Doch die DDR-Urlauber im Ausland stiegen weiter über die Zäune der westdeutschen Botschaften. Der Start in den Jubiläumsmonat war mißlungen.

Als Honecker am 2. Oktober im Ost-Berliner Staatsratsgebäude Generale beförderte und ernannte, demonstrierten auf dem Leipziger Innenstadtring etwa 20.000 Menschen, die erstmals "Wir sind das Volk!" riefen. Bereitschaftspolizei und Betriebskampfgruppen lösten die nicht genehmigten Kundgebungen auf. Verhaftungen wurden vorgenommen. Die Namen waren tags darauf in den blumengeschmückten Fenstern der Nikolaikirche zu lesen. Honecker ergänzte eine Pressemeldung der staatlichen Nachrichtenagentur ADN über die Ausreisen in die Bundesrepublik Deutschland mit der handschriftlichen Bemerkung: "Wir weinen ihnen keine Träne nach." Das wurde sogar im Politbüro der SED als Provokation empfunden.

Hier dürfte spätestens der Entschluß gefaßt worden sein, sich von Honecker zu trennen. Doch vor dem 7. Oktober war das nicht möglich. Der Unmut unter den 2,1 Millionen Mitgliedern und Kandidaten der SED war nicht mehr zu unterdrücken. Unter den Botschaftsflüchtlingen befanden sich Parteimitglieder oder deren Familienangehörige. Auf den Unterschriftslisten des Neuen Forums trugen sich Genossen ein. Selbst auf dem Treffen der Parteiveteranen, der "Aktivisten der ersten Stunde" im Haus des Zentralkomitees der SED am 3. Oktober, war die Stimmung ähnlich gedrückt wie nach dem 17. Juni 1953. Wie konnte das alles passieren, und welchen Ausweg gab es?

In der westdeutschen Botschaft in Prag saßen erneut mehr als 7.500 DDR-Bürger und forderten ihre sofortige Ausreise. Erneut mußte die "Massenausreise" genehmigt werden. Der paß- und visafreie Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei wurde mit sofortiger Wirkung "vorübergehend ausgesetzt". Die DDR hatte sich eingeschlossen. Die Mißstimmung in weiten Teilen der Bevölkerung eskalierte weiter.

Als über die westdeutschen Medien die Streckenführung der Ausreisezüge veröffentlicht wurde, kam es um den Dresdener Hauptbahnhof zu den blutigen Ereignissen in der Nacht zum 5. Oktober. Über 1.000 Demonstranten aus Dresden und anderen Orten versuchten den Bahnhof zu besetzen, die Züge zu stoppen und ihre Mitreise zu erzwingen. Da inzwischen alle Polizeikräfte in der DDR in eine "Stufe der erhöhten Bereitschaft" versetzt waren, waren Kräfteverschiebungen nur begrenzt möglich. Die höchste Befehlsstelle auf Bezirksebene war die Bezirkseinsatzleitung (BEL), geführt vom Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung. In Dresden war das Modrow, der spätere DDR-Regierungschef.

Der BEL unterstanden unter anderem alle bewaffneten Kräfte im Territorium, mit Ausnahme der NVA. Obwohl Bereitschaftspolizei zur Verstärkung aus dem Nachbarbezirk Halle eintraf, bat Modrow um Armeeverstärkung. Verteidigungsminister Keßler befand sich zum "Großen Zapfenstreich zu Ehren des 40. Jahrestages der DDR" in Berlin und nahm in den Nachtstunden die Generalprobe zur Großen Truppenparade ab. Ohne zu zögern wurden die Standortkräfte der Militärakademie Dresden und der Offiziershochschule der Luftstreitkräfte in Kamenz in "volle Gefechtsbereitschaft" versetzt.

Die Paradekräfte dieser Einrichtungen verblieben in Berlin. Der Kommandeur der Militärakademie wurde Modrow beigeordnet. Der Hauptbahnhof wurde geräumt und verbarrikadiert. Stundenlang waren die Wasserwerfer im Einsatz gegen Steine und Brandsätze der Demonstranten. Die Zahl der Verletzten auf beiden Seiten war hoch. Die verriegelten Züge mit den Botschaftsflüchtlingen passierten mit 15 Kilometer Stundengeschwindigkeit den umkämpften Verkehrsknotenpunkt. Ein Schockerlebnis für die meisten Beteiligten auf beiden Seiten der "Barrikade". Seit dem 17. Juni 1953 hatte es derartige Auseinandersetzungen auf offener Straße nicht gegeben.

Wehrpflichtigen Bereitschaftspolizisten und blutverschmierten Bürgern kamen im Morgengrauen die Tränen angesichts der mit Steinen übersäten Prager Straße und des entglasten Bahnhofsgebäudes. Fassungslos entstand die Frage: "Ist jetzt Krieg?" Ohne Zweifel wäre jetzt der günstigste Augenblick gewesen, das Kriegsrecht über die DDR zu verhängen. In Ost-Berlin befanden sich die zuverlässigsten Einheiten der NVA-Landstreitkräfte in Bereitstellung für die Truppenparade versammelt, u.a. aus der 9. Panzerdivision Eggesin und dem Luftsturmregiment 40 Lehnin. Doch das unmittelbar bevorstehende Gründungsjubiläum ließ keine Wahl mehr für polnische oder gar chinesische Krisenlösungen. Trotzdem wurde im Presseorgan der SED-Bezirksleitung Leipzig, der Leipziger Volkszeitung, am 6. Oktober der bereits einsatzerprobte Kampfgruppenkommandeur Günter Lutz zitiert: "Wir sind bereit, diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand." An diesem Tag trafen die zahlreichen ausländischen Delegationen zu den Feierlichkeiten in Berlin ein. Seit dem 5. Oktober wurde die "Staatsgrenze West verstärkt gesichert". Mehrere tausend West-Berliner wurden an den Übergangsstellen zurückgewiesen.

Der 7. Oktober 1989, ein Samstag, verlief unter Beibehaltung der höchsten Sicherheitsstufe. Die BEL der Bezirke Ost-Berlin, Potsdam, Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt und Erfurt meldeten "Störungen im Verlauf von Demonstrationen". Die härtesten Auseinandersetzungen fanden diesmal in Ost-Berlin statt, im Zuständigkeitsbereich des SED-Bezirkssekretärs Schabowski. In Leipzig probten die dialogbereiten Kräfte der SED-Führung erstmals mit Erfolg die Ausschaltung der "Betonriege" um Honecker.

Vom 10. Oktober an wurde in allen Bezirken mit dem "Neuen Forum" und anderen Oppositionsgruppen gleichberechtigt über die Zukunft der DDR gesprochen. Auf Antrag Stophs mußte Honecker am 18. Oktober seine Ämter zur Verfügung stellen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen