© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/99 15. Oktober 1999


Schriftsteller: Helmut Krausser – ein Stern am Literaturhimmel
Mit Jünger im Gepäck
Arne Schimmer

Den 35jährigen Münchner Autor Helmut Krausser macht es wütend, wenn er von einigen Kritikern aus dem Feuilleton immer noch als "Talent mit großer Zukunft" bezeichnet wird. Nicht nur der Umfang seines Werkes, das inzwischen mehrere Erzählbände, Theaterstücke, Tagebücher, ein Opernlibretto, einen Gedichtband und sechs Romane umfaßt, spricht gegen diese wohlwollend-herablassende Einstufung, sondern mehr noch die Qualität des bisher Veröffentlichten. Wer mit diesem Autor in Berührung kommt, ist erstaunt über die traumwandlerische Sicherheit des sprachlichen Zugriffs auf die verschiedensten Stoffe. Krausser scheint, genau wie einer seiner Romanhelden, der Alchemist Castiglio aus den "Melodien", befähigt zu sein, magische Kunst herzustellen.

Auch die Biographie des am 11. Juli 1964 geborenen Esslingers ist erstaunlich. Nach seinem 18. Geburtstag schlägt sich Krausser als Opernstatist, Nachtwächter und Spieler (zeitweise wird er in der Schachweltrangliste geführt) durch. Als er 1985 bei der Wohnungssuche keinen Erfolg hat, lebt er ein halbes Jahr mit den Berbern Münchens auf der Straße. In seinen Tagebüchern wird Krausser später diesen Ausbruchsversuch aus dem bürgerlichen Leben mit Jüngers Flucht in die Fremdenlegion vergleichen, "da das ja genau meine Geschichte ist – Junge bricht aus, flieht in die Welt, landet im Dreck, kehrt durch Zufall wieder heim".

Zwischen 1985 und 1988 ist Krausser Sänger der Band Genie & Handwerk, die eine Mischung aus Wave, Folk, Punk und Gothic spielen und ihre Musik selbst als Bruckner-Punk bezeichnen. Die Band verbucht erste Erfolge, tritt zweimal im Münchner Alabama auf und wird vom Zeitgeistmagazin Spex schon als "die größte Hoffnung des deutschen Pop" gelobt, geht aber nach internen Auseinandersetzungen Mitte 1988 auseinander (O-Ton Krausser: "1988 waren wir die beste Band der Welt, und zwar vom siebten Mai bis zum zwölften Mai. Am dreizehnten lösten wir uns auf.") Das Studium der provinzialrömischen Archäologie bricht Krausser ab.

In Kraussers Werk treten die autobiographischen Bezüge am deutlichsten in der Romantrologie um den Zocker und Penner Hagen Trinker hervor. Die drei Romane "Schweine und Elefanten", "Könige überm Ozean" und "Fette Welt" ranken sich um diese Figur. Hagen ist zu elitär für jede wie auch immer sich definierende Elite und findet als Berber die Nische, um alle gesellschaftlichen Ansprüche von sich fernzuhalten. Seinem Motto "Gewinner sind ekelhaft" getreu, sucht sich der Poet Hagen mit der Neigung fürs Abseitige und Pathologische seine literarischen Anschauungsobjekte auf der Sraße.

Doch bei Hagen, der sich dem Rest der Welt turmhoch überlegen fühlt, verselbständigen sich zunehmend Teile der eigenen Persönlichkeit zu einer schizophrenen Abspaltung, dem Mörder Herodes. "Der andere (Herodes) bricht aus, wenn die unterdrückte Wut und Angst zu stark werden; er ist der scharfmesserne Killer, der für den von seinem aufgesetzten Pazifsmus überzeugten Poeten sozusagen die Drecksarbeit erledigt", wie Krausser in seinem Tagebuch "Mai" erläutert. Hagen wird – ein beinahe Wagnersches Motiv – durch die Macht der Liebe der 16jährigen Ausreißerin Judith gerettet. "Fette Welt" wurde mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle von Jan Schütte verfilmt. Doch wo Kraussers Roman hart, schnell, aggressiv und ironisch erzählt, reines Kunstprodukt ist, gerät Schüttes Film zur sozialkritischen Milieustudie und wurde dementsprechend von Krausser als "zu sozialdemokratisch" abgelehnt.

Es sind wahnhafte Aussteiger wie Hagen Trinker, ehrgeizlos zwar in Bezug auf ihr gesellschaftliches und berufliches Fortkommen, dafür ihre Obsessionen leidenschaftlich bis zum Wahnsinn verfolgend, die einem bei Helmut Krausser begegnen. Sind seine Romane auch derart unterschiedlich, daß manche Kritiker von einem "literarischen Chamäleon" sprechen, so zieht sich doch der Selbstverlust der Person im Wahnsinn als immer wieder aufgenommener Faden durch sein Werk.

In seinem abgründigen Meisterwerk "Thanatos" beschreibt Krausser mit akribischer Genauigkeit die Ich-Dissoziation des Germanisten Konrad Johanser, dessen Schicksal sich mit auswegloser Grausamkeit erfüllt und der sich schließlich für Thanatos, den Todestrieb, hält. Zum Schluß vermeint Johanser das gesamte Totenheer in sich zu hören, "die Stimmen aller, tief drinnen, das Wir, das Wir ist eine Meute Testamente".

Kraussers zweiter großer, beinahe 900 Seiten umfassender Roman "Melodien" ist eine atemberaubende Variation des Orpheus-Mythos auf zwei Zeitebenen vor prallem historischen Hintergrund. Kraussers Helden erleben ihre Untergänge in einem unvermessenen Sehnsuchts- und Niemandsland, begehen Morde und verfallen dem Wahnsinn. Gleichzeitig trägt Krausser mit unverwechselbarer Handschrift, oft unter der Maske des Clowns, Liebe, Mythos und Tod in unsere Zeit hinein. So ist Krausser als Dialektiker von Größe und Untergang Apokalyptiker und Gralssucher zugleich.

Kraussers Rezeption im Feuilleton ist gespalten, sie fällt entweder überschwenglich aus oder es gibt oftmals politisch gefärbte Verrisse. Im Tempo nannte Maxim Biller Krausser den einzigen Autor, der "die Ödnismisere der eigenen jungen Generation begriffen" habe, während Hannes Stein in einem gehässigen Verriß im Spiegel bemängelte, daß Krausser eine "abgründige Neigung zum Mythischen, Geraunten, zum Tiefdunkelbedeutsamen" habe.

Uwe Pralle will in der Neuen Zürcher Zeitung die "Melodien" gar als "rhetorischen Amoklauf gegen die Moderne" gedeutet wissen, ein "Gegenwartsroman, der die Dekadenz heutiger Kultur attackiert und ihr den erfundenen Mythos reiner Musik kontrastiert, der sich durch das 16. und 17. Jahrhundert gezogen" habe. Kritisch vermerkt Pralle auch, daß Ernst Jünger eine Danksagung des Buches gilt und daß Jünger in den "Melodien" zitiert werde.

Ernst Jünger und Helmut Krausser standen bis zum Tode des Dichters im Februar 1998 in Briefkontakt, Ernst Jünger hat einen Brief an Krausser, in dem Jünger auf eine Anfrage Kraussers bezüglich des französischen Schriftstellers Celine antwortete, in den letzten Band seiner Tagebücher "Siebzig verweht V" aufgenommen. In Kraussers Nachruf auf Jünger in der Süddeutschen Zeitung bezeichnet er Jünger als "martialischen Mahatma" und endet mit den Worten: "Ich habe Jünger manches zu verdanken, und fühle mich sehr einsam jetzt. Viel ist geschehen in einem Moment."

Eine wie auch immer ausfallende Klassifikation Kraussers wird diesem Autor nicht gerecht. Im letzten erschienenen Band seiner Tagebücher "November" schreibt er: "Meine Poetologie ist eine der radikalsten, die hierzulande vorzufinden ist, indem sie versucht, sich aus diversen Quellen zu speisen, die einander lange spinnefeind waren." Kraussers eruptive Leidenschaft des Erzählens ist einmalig. Vielleicht könnte man Krausser am ehesten als den reinen Typus des Anarchisten bezeichnen, wie ihn Jünger im "Weltstaat" definiert, also "derjenige, dessen Erinnerung am weitesten zurückreicht: in vorgeschichtliche, ja vormythsiche Zeiten, und der glaubt, daß der Mensch damals seine eigentliche Bestimmung erfüllt habe. Diese Möglichkeit sieht er noch heute in der menschlichen Anlage und zieht seine Schlüsse daraus. In diesem Sinne ist der Anarchist der Urkonservative, der Radikale, der Heil und Unheil der Gesellschaft an der Wurzel sucht".

 

Von Helmut Krausser erschienen zuletzt im belleville Verlag, München, der Tagebuch-Band "November" (lim. Auflage, 153 Seiten, br., 28 Mark) und "Gedichte 79–99" (182 Seiten, geb., 38 Mark)


 
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