© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/99 22. Oktober 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Haltlosigkeit
Karl Heinzen

Das Ifo-Institut hat sich in einem Gutachten dafür ausgesprochen, den gesetzlichen Ladenschluß an Werktagen aufzuheben und ihn an Sonn- und Feiertagen in das Ermessen der Kommunen zu stellen. Dadurch würden genau die Unternehmen mit Umsatzsteigerungen belohnt werden, welche die größere Flexibilität am Markt durch längere Öffnungszeiten dokumentieren. Einbußen erlitten hingegen zumeist kleinere Handelsbetriebe, die sich nicht anzupassen verstünden. Viele von ihnen dürften sich unter den neuen Rahmenbedingungen als unrentabel herausstellen und aus dem Stadtbild verschwinden. Immerhin steht ihnen heutzutage die Möglichkeit offen, ihre Geschäftstätigkeit im Internet fortzusetzen, Märkte in eine Bewegung zu versetzen, zu der sie aus eigener Kraft nicht in der Lage wären. Eine transparente Angebotsstruktur zu schaffen, damit der Verbraucher Zeit bei der Orientierung spart. Den Flexiblen jenen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, der sie die Nutznießer des Überkommenen aus dem Feld schlagen läßt: Ordnungspolitik zeigt in einer Marktwirtschaft auch dann Wirkung, wenn sie sich nicht von sozialen Motiven leiten läßt.

Der Einwand der Sozialforschungsstelle Dortmund, daß die längeren Öffnungszeiten den Stellenabbau im Einzelhandel bislang nicht gestoppt hätten (und auch die vollständige Freigabe an diesem Trend nichts ändern dürfte), zeugt also eher von einer etwas angestaubten Zielvorstellung, als daß man ihn gelten lassen könnte: Wer unternehmerische Motivation wirklich ernst nimmt, darf die Beschäftigung nicht zum Selbstzweck erheben. Außerdem ist selbst bei unbeschränkten Öffnungszeiten, wie immer, wenn man etwas verkaufen will, auch an die Menschen gedacht: Zumindest anfänglich werden sie sich wie im Urlaub fühlen und eine entsprechende Konsumfreude an den Tag legen. Nicht vergessen werden darf überdies, daß die Begriffe "Tag" und "Nacht" in einer immer globaler werdenden Welt sowieso ihre einstige Aussagekraft verloren haben.

Vor allem aber beweist die anstehende Neuordnung, daß sich unsere Wirtschaft auf ihre Kunden einzustellen versteht: Die aus der industriellen Ära stammende Konditionierung der Menschen auf eine durchdachte Planung ihres Tages verflüchtigt sich, da sie nicht mehr benötigt wird. Wer nicht nach einem erkennbaren Rhythmus arbeitet, versteht üblicherweise auch nicht, nach einem solchen einzukaufen. Jede Liberalisierung nimmt ihren Anfang in der Lebensführung der Menschen, sie resultiert aus ihrem Unvermögen, sich an soziale Regeln zu halten, aus einem Mangel an Selbstdisziplin. Wer sein Leben im Griff hat, weiß dieses so einzurichten, daß ihn keine Ladenschlußregelung der Welt aus dem Lot bringen kann. Wer aber haltlos ist, sucht wenigstens die Sicherheit, rund um die Uhr einkaufen zu können. Man weiß bei ihm zwar nie, wann er in den Laden kommt. Aber man weiß, daß man an ihm gut verdienen kann.


 
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