© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/99 22. Oktober 1999


Ideologie: Der Politikwissenschaftler Konrad Löw kritisiert die Verharmlosung des Marxismus
"Wir stehen erst am Anfang"
Dieter Stein

Sie haben soeben ein "Rotbuch der kommunistischen Ideologie" mit einem Vorwort von Stéphane Courtois herausgebracht. Warum war dieses Buch nötig?

Löw: Das "Schwarzbuch des Kommunismus" endet mit einem Kapitel, das die Überschrift "Pourquoi?" zu deutsch "Warum?" trägt. In diesem Schlußkapitel wirft Courtois, der Hauptherausgeber, die Frage auf, wie es zum kommunistischen Terror kommen konnte. Er vergegenwärtigt einige Ideologien, kommt dabei auch auf Marx zu sprechen. Der Name Marx, die Person Marx ist gleichsam der gemeinsame Nenner aller Täter der im "Schwarzbuch" aufgelisteten Verbrechen. Also ist es naheliegend, Marx zu thematisieren. Courtois nimmt ihn dann aber in Schutz, teilweise auf eine Art und Weise, die schlechterdings unrichtig ist, so wenn er meint, daß Marx nur einmal in einem Brief von "Diktatur des Proletariats" gesprochen habe.

Das ist falsch?

Löw: Ja. Hingegen zieht sich das Bekenntnis zur "Diktatur des Proletariats" praktisch durch den Hauptteil des Lebens von Marx hindurch, beginnend mit 1848, dem "Manifest der kommunistischen Partei". Da erschien es mir angezeigt, diese unrichtige Entschuldigung, Enlastung des Karl Marx nicht im Raum stehen zu lassen.

Hat sich Courtois denn mittlerweile Ihrer Wertung angeschlossen?

Löw: Weitgehend. Das geht auch aus seinen Vorwort zu meinem Buch hervor. Ferner äußerte er in einer Podiumsdiskussion, er habe einst in Paris das Kommunistische Manifest verkauft, aber es offenbar damals nicht gründlich genug gelesen, sonst hätten ihn jene Passagen stutzig machen müssen, in denen Marx wörtlich den "gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung" fordert.

Ihr Buch ist eine Zusammenstellung von Textpassagen von Marx und Engels. Sie erkennen in diesem Buch Marx als den geistigen Vater eines bedingungs- und rücksichtslosen Totalitarismus, der für eine politische Utopie bereit ist, jeden zu vernichten, der sich ihm in den Weg stellt. Hat man das bisher bewußt ausgeklammert? Liegt das daran, daß man dann an den Grundfesten der sozialdemokratischen Ideen, auch den Geistestraditionen rütteln würde?

Löw: Die Sozialdemokraten haben sich 1959 von Marx distanziert, und zwar so eindeutig, daß niemand die gegenteilige Position vertritt. Man hat aber damals die wahren Gründe nicht öffentlich genannt, sondern behauptet, die Bürgerlichen würden immer wieder den Marxismus gegen die SPD instrumentalisieren ...

Sie meinen, es war eine halbherzige Distanzierung?

Löw: Es war eine totale Distanzierung! Man hat aber die wahren Gründe nicht genannt. Die wahren Gründe kann man den Protokollen des Parteitages entnehmen. Ich habe die Protokolle durchgesehen und die Ergebnisse veröffentlicht. Die SPD hatte erkannt: Marx war Antisemit, Marx war Hasser der slawischen Völker, Marx war Vorkämpfer des Totalitarismus. Aber man glaubte, man könne diese Fakten, gleichsam diese Demontage des Karl Marx, dem Parteivolk nicht zumuten. Man stieß zwar Marx über Bord, nannte aber nicht die wahren Gründe. Ich habe sie dann in diversen Publikationen aufgeführt. Warum dieses Material nicht zur Kenntnis genommen wurde, weiß ich nicht. Es ist so, daß die Verteidiger von Marx mit fünf, sechs Äußerungen von Marx immer und immer wieder gebetsmühlenartig aufwarten und offenbar die meisten, die sich mit Marx etwas beschäftigen, sich durch diese auf den ersten Blick etwas blendenden Formulierungen einfangen lassen. So gut wie niemand nimmt sich die Zeit für das ganze Gedankengebäude, 42 Bände Marx-Engels-Werke, die aber aufgeschäumt werden sollen auf insgesamt 122, niemand nimmt auch nur die 42 Bände zur Kenntnis, geschweige denn eines Tages die 122.

Das "Schwarzbuch des Kommunismus" ist ein riesiger Verkaufserfolg gewesen; es hat monatelang die Feuilletons beschäftigt. Dennoch hat die Beschäftigung mit diesem Kapitel der Geschichte nicht eine Breite angenommen, wie es mit dem Nationalsozialismus geschehen ist. Liegt das auch daran, daß an westdeutschen Universitäten eine große Zahl von Wissenschaftlern marxistisch orientiert war?

Löw: Ich will nicht die Namen derer wiederholen, namhafte Kollegen, die Informelle Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes gewesen sind. Andere Namen werden wohl noch auftauchen; das ist die Erwartung des Herrn Gauck und meine auch. Davon abgesehen, wurde man leicht durch eine marxfreundliche Sekundärliteratur verführt. Das kann ich an meiner eigenen Person veranschaulichen. 1968 erhielt ich die Einladung, ich möge nicht nur die BRD und den Freistaat Bayern in meinen Vorlesungen erörtern, sondern auch die Verfassung der DDR und ihr politisches System. In der Verfassung der DDR des Jahres 1968 stieß ich gleich in Artikel 1 auf ein Bekenntnis zur marxistisch-leninistischen Partei, also zum Marxismus-Leninismus, zu Marx, Engels, Lenin. Folglich mußte ich mich mit dieser Ideologie und mit diesen Personen beschäftigen. Ich tat dies anhand der bei uns in der Bundesrepublik verbreiteten Sekundärliteratur und kam da zu sehr marxfreundlichen Ergebnissen. Ich habe damals Marx in Schutz genommen, gesagt, die DDR würde Marx mißbrauchen, wenn sie sich auf ihn beriefe. Marx sei von humanitärem Geist beseelt, ein politischer Kämpfer für die Linderung der Not der arbeitenden Klasse gewesen. Bis ich dann allmählich die Zeit fand, in die Tiefe zu gehen. Bruchstückweise korrigierte ich dann mein Bild. Und aus den Bruchstücken wurde schließlich ein Gesamtbild. Mit anderen Worten: Die 42 Bände der Marx-Engels-Werke habe ich systematisch von A bis Z durchgelesen und anläßlich der Erarbeitung meines "Rotbuchs" tat ich das gleiche noch einmal. Mir kann insofern niemand etwas vormachen. Ich habe alles, was von Marx auf die Nachwelt übergegangen ist, gelesen und verarbeitet. Schrittchen für Schrittchen mußte ich meine marxfreundlichen Äußerungen revidieren, also im Ergebnis sagen, daß sich die DDR, dieser totalitäre Nachbar, zu Recht auf Marx berufe.

Die PDS erfreut sich wachsender Zustimmung. SPD und neuerdings auch Unionspolitiker plädieren für einen neuen Umgang mit der SED-Nachfolgepartei. Man tut sich schwer, die Vergangenheit der Partei anzugreifen. Einer der Angriffspunkte der PDS wäre ja wohl, daß sich die PDS, im Gegensatz zur SPD, von der menschenverachtenden marxistischen Ideologie nicht distanziert.

Löw: Zumindest keine Distanzierung von Marx. Aber insofern haben wir ja auch bei der SPD gleichsam einen Rückfall in alte Sünden. Denn während im Godesberger Programm der Marxismus in keiner Weise als Wurzel der SPD benannt wird, taucht Marx im Berliner Programm des Jahres 1989 wieder als einer der Ideengeber der Sozialdemokratischen Partei auf. Entweder wußten die Leute nicht, warum sich die Partei 1959 getrennt hatte, oder ihnen schien es, daß man nun doch wieder mit Marx kokettieren könne. Insofern sind mir die wahren Beweggründe derer nicht bekannt, die für das Programm des Jahres 1989 verantwortlich sind. Das Faktum bleibt bestehen, daß nun der Marxismus als geistige Wurzel der SPD wieder hoffähig geworden ist.

Wir stehen also erst am Anfang einer Auseinandersetzung mit dem Marxismus und den Ursprüngen des Kommunismus?

Löw: Hoffentlich stehen wir am Anfang. Daß wir noch nicht weiter sind, liegt an der Ignoranz, an der Feigheit der Beteiligten. Auch daran, daß womöglich die Parteigeschichte etwas angekratzt werden könnte, wobei zugunsten der SPD zu sagen wäre, daß sie nie eine marxistische Partei gewesen ist. Die Praktiker, ich denke insbesondere an Eduard Bernstein, an August Bebel, waren, wenn man so will, Revisionisten, die nicht durch Gewalt, Revolution und dergleichen an die Macht kommen wollten. Sie wollten die Lage der Arbeitenden verbessern, aber eben auf demokratischem Wege. Und sie hatten damit auch beachtlichen Erfolg.

 

Prof. Dr. Konrad Löw Jahrgang 1931, war von 1972 bis 1975 ordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, seit 1975 lehrt er an der Universität Bayreuth. Konrad Löw ist Leiter der "Fachgruppe Politik der Gesellschaft für Deutschlandforschung".

 

Veröffentlichungen: "… bis zum Verrat der Freiheit" (1993); "Der Mythos Marx und seine Macher" (1996); "Das Rotbuch der kommunistischen Ideologie. Marx & Engels – Die Väter des Terrors" (1999)


 
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