© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/99 22. Oktober 1999


Das amerikanische Jahrhundert
von Matthias Bath

ie Wende zum 21. Jahrhundert gibt Anlaß für eine Bilanz des zu Ende gehenden Jahrhunderts, des Jahrhunderts Amerikas. Um 1900 war Europa geprägt durch die Ideen des 19. Jahrhunderts: Liberalismus, Konservatismus und ihren Gegenpol, den seit 1848 entstandenen Sozialismus marxistischer Prägung. Daß weit entfernt jenseits des Atlantiks zu dieser Zeit die Vorstellung einer weltweiten Mission der USA entwickelt wurde, "freedom and democracy" anderen Völkern nötigenfalls mittels interventionistischer Polizeiaktionen zu vermitteln und 1898 mit der Annexion Hawaiis und der Eroberung der Philippinen erstmals in die Tat umgesetzt wurde, nahm man in Europa kaum wahr.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges entstanden die Ideen von 1914 von der Aufhebung aller innerstaatlichen sozialen und ideologischen Gegensätze unter nationalen Vorzeichen. Zugleich endete die Existenz des alten Europas. Die Ideen von 1914 bestimmten nur vorübergehend die Denkweise aller Kriegsparteien. Auf seiten der Alliierten wurden sie bald von Formeln des Kampfes für westliche Werte, Zivilisation und Demokratie überlagert, während sie sich auf seiten der Mittelmächte durch die Auswirkungen des andauernden Krieges zwar abnutzten, gleichwohl aber in Teilen der Bevölkerung, insbesondere bei den Frontsoldaten, lebendig blieben.

Die USA hatten schon frühzeitig auf seiten der Alliierten gestanden, korrespondierten doch deren Kampfziele mit den eigenen Vorstellungen der Ausbreitung westlich-amerikanischer Werte. Aber erst 1917 begann mit dem Kriegs-eintritt der USA Amerikas erster "Kreuzzug für die Demokratie". Die Kriegsziele der USA wurden im Januar 1918 in den 14 Punkten der Friedensbotschaft Präsident Wilsons zusammengefaßt, die freilich nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte keine Bedeutung mehr haben sollten. Letztlich entschied die Wirtschaftskraft der USA bereits den Ersten Weltkrieg, den die USA damit politisch gewannen.

1917 war mit der Machtergreifung der Bolschewisten in Rußland aber ein erstes antiwestliches Machtzentrum entstanden, dessen Ideen von großer Attraktivität für die vom Krieg ausgelaugten Völker Europas waren. Am Ende des Krieges war die Gefahr der Ausbreitung des Kommunismus derart virulent, daß es zu seiner Bekämpfung zu Zweckbündnissen zwischen den Westmächten und den nationalen Kräften der Mittelmächte kam. Gleichwohl blieben den Mittelmächten 1919 Gleichberechtigung und Selbstbestimmung entgegen den universellen Intentionen der USA aufgrund des Chauvinismus der europäischen Westmächte verwehrt.

Politisch gehörten auch die USA zu den Verlierern des Krieges, wurden doch ihre Vorstellungen von ihren europäischen Alliierten weitgehend abgelehnt. So diente der auf amerikanische Initiative zurückgehende Völkerbund weniger der Verbreitung von Freiheit und Demokratie im amerikanischen Sinne als vielmehr der Aufrechterhaltung des 1919 durch die Pariser Vorortverträge geschaffenen status quo in Europa. Die USA blieben dem Völkerbund fern und zogen sich enttäuscht aus Europa zurück. Es begann die zwanzigjährige Phase des Isolationismus.

In Europa kamen 1922 in Italien und 1933 in Deutschland Vertreter der Ideen von 1914 an die Macht. Sie bannten die Gefähr kommunistischer Revolutionen und begründeten zugleich eine weitere politische Alternative zu den Ideen des Westens. Ihre gleichermaßen antikommunistischen wie antiwestlichen Feindbilder faßten sie in Theorien von jüdisch-kapitalistischer-marxistischer Weltverschwörung zusammen. Im Gefolge Italiens und Deutschlands entstanden in zahlreichen Ländern, darunter auch den traditionellen Demokratien des Westens, neue nationalistische Bewegungen, denen letztlich aber der Erfolg versagt blieb.

Die Sowjetunion reagierte auf die Eindämmungspolitik des Westens und das Aufkommen neuer antikommunistisch/nationalistischer Gegner mit der Aktivierung der weltweit agierenden kommunistischen Parteien unter strikter Anleitung durch die stalinistische Moskauer Zentrale. Zur Erklärung der kommunistischen Feindbilder wurden Faschismus- und Imperialismustheorien entwickelt.

Das nationalsozialistische Deutschland entwickelte, beginnend mit dem Austritt aus dem Völkerbund, dem Deutschland erst 1926 beigetreten war, im Herbst 1933 eine Politik der Unabhängigkeit gegenüber den Siegermächten von 1918, die letztlich nach der deutschen Besetzung der Tschechei im März 1939 zur Rückkehr der USA in die europäische und internationale Politik führte. Wenige Monate später ermöglichte das antiwestliche Zweckbündnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Zunächst handelte es sich um einen Krieg Deutschlands und Italiens gegen die Westmächte, während die Sowjetunion in der Position des abwartenden Dritten verharrte. Die USA standen wie schon 1914 politisch und wirtschaftlich auf seiten der Westmächte und formulierten schon vor ihrem militärischen Kriegseintritt 1941 gemeinsame Kriegsziele mit Großbritannien, dem damaligen westlichen Hauptgegner Deutschlands, wie auch Vorstellungen für eine Nachkriegsordnung der Welt.

Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, durch den im übrigen auch die Abnutzungsstrategie Stalins durchkreuzt wurde, kam es zu einem weltweiten Ringen zwischen dem nunmehrigen Zweckbündnis der Sowjetunion mit den Westmächten und dem Bündnis der nationalistischen Achsenmächte. Die USA, die erst Ende 1941 militärisch in den Krieg eintraten, gaben mit ihrer Wirtschaftskraft wie auch schon im Ersten Weltkrieg den Ausschlag. Der Zweite Weltkrieg endete 1945 mit der vollständigen Niederlage und Besetzung der Achsenmächte. Im Fall Japans wurde dies allerdings erst nach dem Abwurf zweier Atombombem durch die USA mit über 130.000 vorwiegend zivilen Todesopfern im August 1945 erreicht.

Mit ihrer militärischen Niederlage schienen die Ideen von 1914 auch politisch verschwunden zu sein. Die Besiegten schlossen sich unter Aufgabe ihrer bisherigen politischen Identität den jeweiligen Gegebenheiten folgend den siegreichen westlichen oder kommunistischen Ideen an. Was sich Jahre später ausschließlich in der westlichen Einflußsphäre in dieser Richtung neu organisieren sollte, blieb politische Randerscheinung.

Einer neuen Weltordnung amerikanischer Prägung schien 1945 nichts mehr im Wege zu stehen. Noch vor Kriegsende wurden auf amerikanische Initiative in San Francisco die "Vereinten Nationen" als Nachfolger des Völkerbundes und künftiges Steuerungsinstrument einheitlicher Weltpolitik geschaffen. Aber binnen kurzem führten die divergierenden Interessen der von den USA geführten westlichen Staaten und der UdSSR zu einer neuen weltweiten Konfrontation; dem "Kalten Krieg", der einer einheitlichen Weltpolitik abermals entgegenstand.

Im Zeichen des Ost-West-Konfliktes festigten die USA ihre politische, militärische, wirtschaftliche aber auch kulturelle Dominanz über die mit ihnen verbündeten Länder. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um frühere umzuerziehende Feindstaaten oder traditionell westlich geprägte Länder handelte. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Nach 1945 waren die USA in der westlichen Welt angesichts ihrer materiellen, wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen konkurrenzlos führend. Die USA bildeten mit ihrem großen Territorium, ihrem Lebensstandard und ihrer hohen Bevölkerungszahl den größten Markt, aber auch das größte Produktionszentrum der Welt. Dem konnten die den USA zugänglichen nationalen Volkswirtschaften, die überdies von den Folgen des Krieges gezeichnet waren, nur wenig entgegensetzen. Zugleich verlangte der amerikanische Produktionsausstoß nach immer weiteren Absatzmöglichkeiten für amerikanische Produkte.

Hinzu kam, daß die USA ihre technische und ökonomische Effizienz perfektionierten, so daß bislang außerhalb der USA übliche Techniken und Verfahrensweisen sich als nicht mehr konkurrenzfähig erwiesen und die amerikanischen Lösungen übernommen wurden. Letzteres gilt auch auf dem kulturellen Sektor. Die Simplizität der Produkte amerikanischer Unterhaltungsindustrie mit ihrem Appell an alles Leichte, Schnelle, Einfache und Triviale erreichte den Massenkonsumenten daher eher als die komplexeren Formen gewachsener Kultur. Mit der wirtschaftlichen und kulturellen Dominanz kam aber auch die Übernahme des amerikanisch geprägten Wertesystems, des Primats des Ökonomismus und der nahezu unbeschränkten individuellen Persönlichkeitsentfaltung für alle, die sich diese wirtschaftlich leisten können. Die entgegenstehenden Wertesysteme der Ideen von 1914 und des Sowjetkommunismus versuchte man über die Totalitarismustheorie unter einen Oberbegriff zu fassen und gemeinsam zu stigmatisieren.

Zeitweilig schien es, als würde die Sowjetunion insbesondere in den früheren Kolonialgebieten Afrikas und Asiens gegenüber dem Westen Position um Position gewinnen, aber viele der damaligen sowjetischen Verbündeten waren ihrer inneren Verfaßtheit nach eher den Ideen von 1914 zuzuordnen, die so ihre unerwartete Wiederkehr erlebten und nur angesichts ihrer antiwestlichen Grundeinstellung an die Seite der Sowjetunion gedrängt wurden. Die USA stießen insbesondere im Vietnamkrieg angesichts eines nicht faßbaren Gegners an die Grenzen der traditionellen Art amerikanischer Kriegsführung, des Ausspielens technischer und materieller Überlegenheit gegenüber Schwächeren, und damit an die Grenzen ihrer militärischen Möglichkeiten.

Die sowjetischen Erfolge endeten erst mit dem Einmarsch in Afghanistan 1979, wo die Sowjets auf einen vergleichbaren Gegner stießen. Die Hochrüstungspolitik der USA in den achtziger Jahren, mit der die Sowjetunion nicht mehr Schritt halten konnte, entschied 1989/90 den Ost-West-Konflikt zugunsten der USA und ihrer Verbündeten. Das sowjetische Imperium zerbrach, und selbst in der russischen Regierung gibt es heute westliche Tendenzen. Die USA können nunmehr ohne Gegenpol die globale Ausbreitung ihrer Denk- und Lebensweise betreiben. Wo sich Widerstand einzelner Völker unter nationalen Vorzeichen gegen die Omnipotenz der USA richtet, wird er mit dem Militärpotential der neuen Weltordnung niedergewalzt, wie dies im Frühjahr 1999 auf dem Balkan geschah.

Allerdings gibt es auch militärisch nicht faßbare Gegenströmungen zum westlichen Universalismus. So ist der Kommunismus nach 1990 zwar zurückgedrängt, aber weiterhin in modifizierten Formen, wie etwa in Deutschland der antiwestlichen PDS, durchaus virulent. In Rußland erscheint eine kommunistische Rückkehr an die Macht durchaus möglich. Das Ende des Ost-West-Konflikts hat zudem auch den Ideen von 1914 Chancen zu einer ebenfalls modifizierten Wiederbelebung eröffnet. So stehen nicht nur zahlreiche Länder der Dritten Welt unter nationalen Vorzeichen den USA ablehnend gegenüber, sondern auch in Europa haben nationale Bestrebungen im letzten Jahrzehnt zunehmend an Bedeutung gewonnen. Zu erwähnen ist weiter die Rolle des Islam. Nicht zuletzt verweigert sich auch mit der Volksrepublik China weiterhin der bevölkerungsreichste Staat der Welt weitgehend amerikanischer Einflußnahme.

In den USA selbst existieren tiefe ethnische Gräben zumindest zwischen "Hispanics" und Anglo-Amerikanern, aus denen durchaus Konflikte unter nationalen Vorzeichen erwachsen können. Hinzu kommt die allgemeine Krisenhaftigkeit des Kapitalismus bei immer weitergehender Kapitalkonzentration.

Angesichts der Offenheit der Geschichte bleibt abzuwarten, ob das 21. Jahrhundert den endgültigen Durchbruch zur "One World" bringt, oder aber eine Renaissance der Völker und Religionen.

 

Dr. Matthias Bath, 43, Jurist, schrieb zuletzt auf dem Forum über das Verhältnis von Politik und Ökonomie (JF 8/99).


 
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