© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/99 29. Oktober 1999


Tod mit 70
von Bernd Thomas Ramb

Die Diskussion um die "Rente mit 60" bestätigt wieder einmal den Verdacht, daß die Politik immer heftiger zu gefährlich kurzatmigen Milchmädchenrechnungen mit zunehmendem Gedächtnisschwund neigt. Eigentlich konnte man annehmen, die verstummte Diskussion um die 35-Stunden-Woche habe das Thema "Umverteilung der Arbeit" endgültig ad acta gelegt. Aber nein, nun soll nicht die Verkürzung der Wochenarbeitszeit, sondern die Reduzierung der Lebensarbeitszeit das Allheilmittel zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit bieten.

Die fetzige Forderung "Rente mit 60" zeugt mehrfach von Weltfremdheit. Zunächst einmal ist es der Gewerkschaft und den ihr nicht zu widersprechen Wagenden offensichtlich entgangen, daß dies längst Realität ist. Das durchschnittliche Alter bei Antritt der Rente ist zwischen 1993 und 1998 von 60,7 auf 57,9 Jahre gesunken. Von den 60- bis 65jährigen sind nur noch etwa 900.000 berufstätig und diese keinesfalls alle bereit, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. "Rente mit 55" wäre eine Forderung, die höhere Sachkenntnis bescheinigen würde.

Realitätsfern ist aber auch die Vermutung, jede Entlassung eines älteren erfahrenen Mitarbeiters könne automatisch durch die Einstellung eines gleichqualifizierten Jüngeren kompensiert werden. Dazu bestehen Erfahrungswerte. So ist es nicht einmal fünf Jahre her, daß der ehemalige CDU-Sozialminister Norbert Blüm ein Frühverrentungsprogramm entwickelte, um den Arbeitsmarkt zu beleben. Die Großindustrie benutzte das Programm zum staatlich finanzierten Abbau der Belegschaft. Neueinstellungen blieben die Ausnahme.

Ein drittes Indiz für die Weltfremdheit der SPD-sozialistischen Arbeitsumverteilungspläne ist die Blauäugigkeit, mit der angenommen wird, die ausgeschiedenen Arbeitnehmer würden sich vollständig aus dem Erwerbsleben verabschieden. Neue Arbeitstechniken (Heimarbeitsplatz, Internet-Jobs) und – notfalls internationalisierte – Betätigungsformen (Stichwort "Scheinselbständige") lassen mit hoher Wahrscheinlichkeit vermuten, daß alle über 60jährigen, die noch arbeiten wollen, dies auch tun.

Das Umverteilungssystem der staatlichen Rente lebt und stirbt nun einmal mit der Formel: Betragshöhe mal Beitragszeit ist Rentenhöhe mal Rentenzeit. Wird die Rentenzeit verlängert und damit automatisch die Beitragszeit gekürzt, muß der Beitrag steigen oder die Rente sinken. Es sei denn, die Regierung fängt an, die Lebenszeit zu kürzen. "Tod mit 70" könnte dann noch das staatliche Rentensystem retten. Die Fiktion vom "sozialverträglichen Ableben" droht real zu werden.


 
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