© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/99 29. Oktober 1999


Pankraz,
Robert Spaemann und die Pflicht zum Nicht-Mittun

Heiligt der gute Zweck je schlechte Mittel? So fragt Robert Spaemann in einem Aufsatz (in der FAZ) im Zusammenhang mit der katholischen "Schein"-Debatte, um die Frage sogleich machtvoll zu verneinen. Es gibt, sagt Spae-mann, gewisse Handlungen, über deren absoluten Bosheitsgrad jedermann genau Bescheid weiß (ethisches Minimum) und auf die man sich einfach nicht einläßt, auch wenn die betreffende Handlung mit höchster Wahrscheinlichkeit zu guten Konstellationen führen bzw. ihre Unterlassung ein schlimmes Übel noch verschlimmern würde.

Der Münchner Philosoph leitet aus dieser Feststellung eine Art Pflicht zum Nicht-Mittun ab. Schon Sokrates habe dekretiert: "Übel leiden ist besser als Übel tun", und das gelte auch heute. Kein Mittäter und auch kein bloßer Mitläufer bei einer Mordaktion könne sich damit rechtfertigen, daß er doch nur "das Schlimmste verhüten wollte". Selbst wenn das Nicht-Mittun für den Verweigerer dramatische Konsequenzen habe, bis hin zur Gefährdung des eigenen Lebens, müsse er sich verweigern.

Was nun aber, möchte Pankraz einwenden, wenn das "Übel leiden" gar nicht den Verweigerer, sondern andere, unbeteiligte "unschuldige" Menschen trifft? Das ist bekanntlich die gewissermaßen normale Situation in unserer famosen Partisanen- und Terroristen-Gegenwart. Ein Geiselnehmer fordert: "Gebt mir diesen und jenen heraus, mit dem ich eine ganz persönliche Rechnung zu begleichen habe, oder ich bringe meine zehn Geiseln um." Was dann tun? Wie sieht da das Gebot "Du sollst nicht morden" aus?

Spaemann reitet in seinem Aufsatz eine furiose Attacke gegen die sogenannten Konsequentialisten oder Verantwortungsethiker, die doch nie genau wissen könnten, was für Folgen ihr Mittun wirklich habe. Vielleicht ist der Geiselnehmer ein Lügner und Sadist und bringt seine Geiseln in jedem Fall um, ob man sich mit ihm arrangiert oder nicht. Vielleicht erweisen sich gewisse gutgemeinte Optimierungs-Strategien à la longue als schreckliche Verschlimmbesserungen, ziehen das Unheil, dem man ausweichen wollte, erst herauf. Nie und nimmer lasse sich eine haltbare Moral auf dem Treibsand futurologischer Optimierungs-Kalküle errichten.

Richtet sich solches Argumentieren nicht letztlich gegen den Moralanspruch überhaupt? Gerechtigkeit pur ist nirgendwo zu haben. Noch das allerkräftigste Moralgebot, und sei es direkt aus dem Schoß der Götter entsprungen, ist umstellt von situationellen Untiefen, angesichts derer die Stimme unseres Gewissens verstummt und wir Unheil erzeugen, was wir auch tun, ob wir handeln oder nicht handeln, ob wir schweigen oder uns einmischen.

Jede unserer Handlungen oder Nichthandlungen ist ein bloßes Sichannähern, der unvollkommene Versuch einer Optimierung. Genau deshalb ist im Christentum dem Gesetz die Gnade beigesellt. Indem wir das Gebot zu erfüllen suchen, verschaffen wir uns keine lupenrein weiße Weste, sondern stehen in der Hoffnung auf Gnade, d.h. wir können immer nur hoffen, daß es uns gelingt, anständig zu bleiben, haben nie die Gewißheit vollständigen Gelingens. Die aber wäre die Voraussetzung der Spae-mannschen Forderung nach Verzicht auf jeglichen Optimierungsversuch.

Auch zum Nicht-Mittun gehört ein gerüttelt Maß Strategie, "Technik". Das ignoriert Spaemann leider. Anknüpfend an Aristoteles’ Unterscheidung zwischen Handeln und Herstellen, "poiesis" und "techné", treibt er einen tiefen, allzu tiefen Keil zwischen Ethik und Technik. Die Ethik, befürchtet er, werde in Technik verwandelt, von der Technik aufgesogen. Der Leitbegriff der Ethik sei "das Gute", der Leitbegriff der Technik "das Bessere". Wenn der Drang zum immer Besseren das Gute überschwemme, zerfielen alle sittlichen Verhältnisse, und wie ein Menetekel erscheine an der Wand der alte Tyrannenspruch: "Alles ist erlaubt!"

Für Pankraz (und er glaubt sich damit voll in der aristotelischen Tradition) ist "das Gute" gar nicht einholbar, von der Technik am allerwenigsten. Es ist der Horizont sowohl aller poetisch-ethischen als auch aller technischen Bemühungen, so daß im Idealfall keine Konkurrenz, sondern eine Konkordanz zwischen Ethik und Technik waltet. Beide sind auf das Gute aus. Beiden kann durch die Widerständigkeit des Materials ein Bein gestellt werden, beide können ins Stolpern kommen und, aristotelisch gesprochen, der hybriden Aporie der Verwirklichung erliegen.

Im Falle der Technik heißt die Hybris sehr oft "geiles Profitstreben". Nicht die optimale, sondern die profitabelste Lösung wird erstrebt; gerade die biogenetischen Laborversuche in den USA und anderswo stehen in dieser Gefahr. Was dagegen den so oft beschworenen "Allmachtswahn" der Techniker betrifft, das gottlose Frankensteinspielen, so wird hier seit den Tagen der Romantiker stark übertrieben. Pankraz ist in seinem Leben zwar so manchem geldgierigen Institutsdirektor begegnet, aber noch nie einer durchgeknallten Frankensteinfigur, die Lieber Gott sein wollte.

Viel eher ist dies Lieber-Gott-spielen-Wollen die Hybris und die Versuchung der Ethik. Einige Ethiker, welcher Couleur und welchen politischen Ranges auch immer, scheinen allen Ernstes zu glauben, sie könnten einen definitiven, unverbrüchlichen und geradezu gnadenlosen Moralkodex auf die Beine stellen, nach dem sich dann jedermann, nicht zuletzt die Techniker, zu richten hätte. Sie sind damit auf dem Holzweg. Sie sollten sich ein Beispiel an Sokrates nehmen, den ja auch Robert Spae-mann zum Zeugen aufruft.

Dieser Sokrates, ein exzellenter Ethiker und tief überzeugt von der Lehrbarkeit der Tugend, hat dennoch nie versucht, seinen Zuhörern Vorschriften zu machen oder ihnen gar im Falle der Abweichung mit Hölle und Verhängnis zu drohen. Seine Methoden waren rhetorische Hebammenkunst, Ironie, nötigenfalls beredtes Schweigen. So gewann er die Liebe seiner Schüler, den Respekt der Welt.


 
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