© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/99 29. Oktober 1999


Soziologie: Georg-Simmel-Gesamtausgabe, Band 16
Die Stimme des Lebens
Volker Kempf

Die fünf letzten Einzelveröffentlichungen Simmels, die der Band 16 der Georg-Simmel-Gesamtausgabe in sich vereint, kennzeichnen die Distanz gegenüber einer sich verselbständigenden wissenschaftlichen Kultur. Simmel (1858–1918) hat seine nachhaltigste Wirkung in der wissenschaftlichen Disziplin Soziologie erfahren. Dabei empfand er sein Hauptwerk "Soziologie" (1908) sowie die Mitbegründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1909) als "Last und Pflicht". Daß er aber weiterhin an der Soziologie interessiert war, macht die Veröffentlichung der "Grundfragen der Soziologie" (1917) deutlich. Darin stellt er seine Entwürfe von Soziologie, auch der philosophischen, die für den späteren Simmel charakteristisch ist, vor.

Simmel blieb mit seinem Buch "Lebensanschauung" (1918) bis zuletzt auf Distanz zur Wissenschaft, verwarf sie aber nicht. Was er im Auge hatte, war die Spezialisierung, welche zur Schwächung der Gesamtpersönlichkeit führe. Wissenschaft solle der Kultivierung der Person dienen und nicht die Person in immer kleineren, sich verselbständigenden Detailproblemen auflösen. Aber nicht nur die Wissenschaft, auch das Recht, die Wirtschaft und andere Erscheinungen der objektiven Kultursphäre neigen nach Simmel dazu, sich jeweils zum Selbstzweck zu machen und den Menschen zu unterjochen. In diesem Sinne versteht Simmel das Gegenteil von Freiheit nicht als Zwang, sondern als Zweckmäßigkeit, die ihn zum bloßen Mittel degradiert.

Der Mensch, der sich nicht zum bloßen Mittel von objektiven Kulturerscheinungen machen läßt, verwechselt dieser Logik folgend beispielsweise nicht Legalität mit Moral. An die Stelle des objektiven Rechts tritt das individuelle Gesetzt. Dieses ist nach Simmel das einzige Gegengift zum Nihilismus, den die Entzauberung der Welt durch die objektive Kulturleistung mit sich brachte. Nicht der rein wissenschaftliche Mensch, sondern der vitale Mensch ist Garant für Verantwortung. Eine tiefe Erkenntnis, deren Gehalt man sich wohl am ehesten im Extrem verdeutlichen kann: wissenschaftlich gesehen ist es gleichgültig, ob der Mensch nun ist oder nicht. Das Leben aber läßt sich nicht von irgendeiner objektiven Instanz wie der Wissenschaft vorschreiben, ob wir Menschen sein sollen oder nicht. Vital genug wird der Mensch das Leben um seiner selbst willen bejahen, ohne sich dafür zu rechtfertigen. Denn Rechtfertigung bringe immer auch die Gefahr der Widerlegung mit sich.

Dieser Gefahr wollte sich Simmel auch in seiner frühen Einschätzung des Weltkrieges nicht aussetzen. In "Der Krieg und die geistigen Entscheidungen" heißt es: "Ich liebe Deutschland und will deshalb, daß es lebe – zum Teufel mit aller ‘objektiven’ Rechtfertigung dieses Wollens aus der Kultur, der Ethik, der Geschichte oder Gott weiß was heraus." Der Krieg war hereingebrochen, löste eine Endzeitstimmung aus, was aber letztlich zur inneren Wandlung Deutschlands führen werde. 1870 sei der Krieg gegen Frankreich von der Idee des Deutschen Reiches getragen worden; 1914 könne es nur noch darum gehen, Deutschland erwachsen werden zu lassen. Von der Übermacht der materialistischen Wertungen, die mit der Anbetung des Geldes hereingebrochen sei, müsse Deutschland zu etwas qualitativ anderem finden. Die Entbehrungen, die der Krieg aufnötige, machen jedenfalls deutlich, worauf es wirklich ankomme.

Simmel änderte seine Position zum Krieg schon im Jahre 1915, was ihm ein Verbot einbrachte, seine politische Einschätzung kundzutun. Dieses Verbot übertrat er aber, wie dem editorischen Bericht des vorliegenden Bandes zu entnehmen ist, mit den Texten zum Krieg aus den Jahren 1914 bis 1916; die allgemeine Kriegsbegeisterung war schließlich längst gekippt.

Könnte dem heutigen Leser die Idee kommen, Simmel habe den Ersten Weltkrieg anfänglich als Gegengift zur Übermacht der materialistischen Wertungen begrüßt, so ist ein Satz aus seinem 1915 gehaltenen Vortrag "Die Idee Europas" aufschlußreich: "All dem geschichtsphilosophischen Tiefsinn zum Trotz, der die ‘Notwendigkeit’ dieses Krieges erspekuliert, bleibe ich bei der Überzeugung, daß er ohne die Verblendung und die verbrecherische Frivolität ganz weniger Menschen in Europa nicht entzündet worden wäre; nun er aber entzündet ist, haben wir in ihm eine Kraftentfaltung und eine opferwillige Begeisterung von nie gekannten Maßen erlebt."

Dieser Krieg nun verspiele die Idee Europas: "das geistige Einheitsbilde, das wir ‘Europa’ nannten, ist zerschlagen, und sein Wiederaufbau ist nicht abzusehen". Doch wenn nach der Zeit des Hasses gegen Deutschland die "Stimme des Blutes" gehört werde und der Versöhnung die Tür aufgehe, dann werde von der tiefsten Quelle her eine "neuentstandene Gemeinsamkeit" folgen.

 

Georg Simmel: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Grundfragen der Soziologie. Vom Wesen des historischen Verstehens. Der Konflikt der modernen Kultur. Lebensanschauungen. Hrsg. von Gregor Fitzi und Otthein Rammstedt. Georg-Simmel-Gesamtausgabe, Band 16. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, 516 S., geb., 58 Mark, br., 38,80 Mark


 
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