© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Mauerfall: Vor zehn Jahren verloren die Politiker die Initiative des Handelns
Stunde des Volkes
Günter Zehm

Neunter November 1989, Fall der Mauer, Massenansturm auf die Grenzübergangsstellen, Grenzübertritt ohne Paß und Visum, unendliche Freude der Freiheit und der Wiedervereinigung – was heute beim Betrachten der einschlägigen Bilder und beim Studium der begleitenden Aufrufe und Verlautbarungen sofort auffällt, ist die Spontaneität der Bewegung, parallel dazu die Hilflosigkeit der verantwortlichen Politiker. Hier brach sich etwas von ganz tief unten Bahn, und keine "Maßnahme" von oben, kein Trick und kein Herummanipulieren an irgendwelchen Ventilen konnte es aufhalten oder auch nur eindämmen. So und nicht anders passiert Geschichte, wirkliche Geschichte.

Keiner von denen, die damals etwas zu sagen hatten oder zu sagen haben glaubten, war dem Ereignis gewachsen, keiner war Treiber, alle waren Getriebene. Das gilt natürlich in erster Linie für die östlichen kommunistischen "Staatsmänner", die Generalsekretäre, Politbüromitglieder, Stasi-Generäle. Keiner von ihnen hätte sich wohl gescheut, die Sache im alten bolschewikischen Maschinengewehr- und Panzerkettenstil zu regeln, aber siehe da, es ging einfach nicht mehr.

Auf dem Weg zur Alarmstufe eins und beim "Entscheidungen zur Durchführung bringen" tauchten unerwartete Schwierigkeiten auf, die Befehlsstränge waren brüchig geworden, die Angst vor der Verantwortung ging um und lähmte den Apparat, die Obergenossen belauerten sich gegenseitig und begannen schon, persönliche Reduits für den Fall der Fälle aufzubauen. So kam es, daß eine mißverständliche Behördenmitteilung, Schabowskis Notiz auf der historischen Pressekonferenz, zur Klimax der ganzen Veranstaltung geriet, zum komisch befreienden Stolpern über den Gipfelgrat, von dem aus es dann nur noch, in immer schnelleren Kaskaden, heiter hinab ins Tal des Gelingens gehen konnte.

Aber auch die Gegenspieler der Politbüros, die Intellektuellen, die Leute vom Neuen Forum und vom Demokratischen Aufbruch, schließlich die westlichen Politiker, waren der Lage nicht im entferntesten gewachsen, liefen den Geschehnissen immer nur hinterher. Man denke an das schmachvolle Gestottere von Christa Wolf, Heiner Müller und tutti quanti am 4. November 1989 auf der großen Alexanderplatz-Demonstration, wo sie im Auftrag der Partei "den Sozialismus retten" wollten und "von unserem Land" säuselten, womit sie nicht etwa Deutschland, ihr Heimatland, meinten, sondern den armseligen Wechselbalg namens "DDR", von dem damals nun auch der allerletzte Laubenpieper in Heringsdorf oder Sömmerda wußte, daß er gar nicht mehr zu retten war und auch nicht – um Himmels willen nicht! – gerettet werden sollte.

Was die westlichen Politiker und Chefpublizisten betrifft, so waren sie derart auf die angeblich Frieden stiftende Nachkriegs"ordnung" und die sie garantierende "Jalta-Linie" fixiert, daß sie sich eine gründliche Änderung gar nicht mehr vorstellen konnten. Der Mauerfall und die sich damit anbahnende Wiedervereinigung und der Untergang des europäischen Kommunismus waren für sie lediglich Störungen ihrer Agenda, auf der solche lebensfremden Projekte wie das Zusammenzimmern ökonomisch-bürokratischer Superstrukturen à la "Maastricht" standen.

Die Rolle, die damals Mrs. Thatcher, Monsieur Mitterand oder unser erster gesamtdeutscher SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine gespielt haben, kann man nur als niederschmetternd bezeichnen. Bush, Gorbatschow und Kohl stehen im Vergleich dazu besser da, doch auch sie kanalisierten nur, was ohnehin geschah. Es waren geistesgegenwärtige Abwickler, dies immerhin, aber Herren der Situation waren sie nie. Herr war damals tatsächlich nur einer: das Volk, vor allem das deutsche Volk im Osten, das genau verstand, was die Stunde geschlagen hatte.

Es hatte immer schon so leben wollen, wie ein großes, begabtes und wirkmächtiges Volk in Mitteleuropa eben leben kann: auf hohem technisch-zivilisatorischem Niveau, mit positiven Freiheiten ausgestattet und natürlich in einem einheitlichen, würdigen Staatsverband, der nicht Brüder und Schwestern künstlich trennte und entfremdete. Jetzt, da die Büttel sichtbar am Ende waren, ließ es sich nicht mehr einschüchtern. In gewaltigen Straßendemonstrationen mit sich klug steigernden Parolen bekundete es seinen unverbrüchlichen Willen, und dagegen war kein Kraut gewachsen.

Unvergeßlich und heute noch die Seelen bewegend die wunderbare Friedfertigkeit und Disziplin dieser entscheidenden Demonstrationen, ihre Gutgelauntheit und Gutmütigkeit. Derartiges hatte es in der Weltgeschichte bis dahin nicht gegeben. Nirgendwo ein Abgleiten in grausame Massenpsychose, wie es solche Ansammlungen doch fast notwendig im Gefolge haben, nirgendwo Blut, Funktionärs-Demütigung, Rachegeschrei, überall nur Entschlossenheit, Kerzen, Bitt- und Dankgebete.

So also wurde der grausamen Tyrannis in Osteuropa das Ende bereitet. Schon kurz nach dem Mauerfall fielen Bulgarien, Rumänien, die CSSR, die Sowjetunion selbst, Revolutionen auch dort, nicht ganz so gediegen wie das deutsche Vorbild, aber sichtbar von ihm inspiriert, "samten". Die Weltgeschichte hatte einen Riesensprung gemacht, und die Chefpublizisten im Westen standen mit offenen Mäulern da.

Wenn heute jemand im politischen Geschäft einen Kredit beanspruchen darf, und zwar einen äußerst großzügigen, dann die an der deutschen Revolution von 1989 Beteiligten. Viele von ihnen sind inzwischen ziemlich schweigsam geworden, wirken gar ermattet, erstens weil ihnen nach Gipfelstürmen wie dem von ’89 die Mühen der Ebene verständlicherweise besonders schwer fallen, zweitens weil ihnen die offenkundige Vaterlandslosigkeit und stumpfsinnige Profitgesinnung der westdeutschen, von ’68 geprägten politischen Klasse, die vorläufig die volle Macht übernommen hat, schier den Atem verschlägt. Doch zur Resignation ist kein Anlaß.

Die internationale geopolitische Situation des Landes ist günstig und kann, kluges Regieren von Berlin aus vorausgesetzt, reiche Früchte tragen. Auch sind noch genügend innere Ressourcen da, trotz des von den 68ern bewußt vorangetriebenen geistigen Verfalls. Man darf sich nur nicht zuviel gefallen lassen, muß "sanft wie die Taube und klug wie die Schlange" sein, wie der Prediger empfiehlt und wie man es ja schon einmal, beim Mauerfall vor zehn Jahren, glorios praktiziert hat.

 

Prof. Dr. Günter Zehm war Feuilleton-Chef und stellvertretender Chefredakteur der "Welt", bis er Ende der achtziger Jahre die Zeitung verließ und zum "Rheinischen Merkur" wechselte. Seit 1991 lehrt er Philosophie an der Universität Jena, seit 1995 erscheint seine "Pankraz"-Kolumne in der JF.


 
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