© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Gerechtigkeitslücke
von Detlef Kühn

Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer 1989 könnte man – frei nach Karl Marx – sagen, ein Gespenst gehe wieder einmal um in Deutschland, das Gespenst der "Gerechtigkeitslücke". Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) kann einen nicht unerheblichen Teil ihres Stimmenzuwachses bei den jüngsten Wahlen in den neuen Bundesländern auf diese ominöse Lücke im gesellschaftlichen und politischen Leben des wiedervereinigten Deutschlands zurückführen. Aber auch den staatstragenden Parteien scheint immer plausibler zu werden, daß die Menschen in der ehemaligen DDR zunehmend Grund haben, sich über die Folgen mangelnder Gerechtigkeit zu beschweren.

Dabei fällt in der öffentlichen Diskussion selten auf, daß kaum jemand exakt beschreiben kann, was er unter "gerecht" versteht und wie dieser Zustand am besten zu erreichen sein könnte. Das Phänomen ist jedenfalls Anlaß, sich einmal mehr grundsätzlich mit den einzelnen Teilen Deutschlands zu beschäftigen und zu untersuchen, ob und mit welchem Ergebnis sie am Ideal der Gerechtigkeit gemessen werden können.

Die wissenschaftliche, philosophische und religiöse Diskussion um "Gerechtigkeit" ist uralt und geht mindestens auf die Denker der griechischen Stadtstaaten (Platon, Aristoteles) zurück. Die Literatur zu diesem Thema ist kaum noch zu überblicken, zweifellos ein Beweis, wie sehr es die Menschen beschäftigt und wie eng es mit den Interessen des Einzelnen und ganzer Bevölkerungsgruppen verbunden ist. Werde ich vom Staat, von der Gesellschaft, meinen Vorgesetzten oder gar vom Schicksal gerecht behandelt? Wann schlägt Ungleichheit in Ungerechtigkeit um, und was kann man dagegen tun? Dabei gelingt es den Betroffenen meist besser, die Problematik aus dem Negativen einzukreisen, als einen gerechten Zustand positiv und dabei konkret zu beschreiben. Wie die Menschen nun einmal gebaut sind, neigen sie weniger dazu, als ungerecht zu empfinden, wenn es ihnen gut geht, während andere mehr zu leiden haben. Oft, etwa bei unterschiedlichen gesundheitlichen Belastungen, kann man ja auch wirklich nichts dafür. Aber aus der Sicht der Benachteiligten bleibt es dennoch ungerecht.

In der gegenwärtigen politischen Diskussion in Deutschland um die "Gerechtigkeitslücke" spielt die "soziale Gerechtigkeit" eine besondere Rolle. Dieser Begriff ist noch verhältnismäßig jung, ein Terminus, der erstmals im 19. Jahrhundert in der Öffentlichkeit gebraucht wurde. Je nach politischer und philosophischer Grundeinstellung fällt dabei die Antwort auf die Frage, was unter "sozial gerecht" zu verstehen ist, unterschiedlich aus. Im Gegensatz zur Einzelfall-Gerechtigkeit spielt bei der sozialen Gerechtigkeit eine gewisse Gleichheit der Verhältnisse eine größere Rolle – in welchem Ausmaß ist umstritten. Die Gerechtigkeit im Einzelfall kann unter sozialer Gleichmacherei durchaus leiden. Schon die alten Römer wußten, daß das höchste Recht zugleich das größte Unrecht sein kann.

Untermauern wir die bisher eher abstrakten Ausführungen mit einigen Beispielen: Die Menschen im Osten empfinden es als ungerecht, wenn ihr tariflich oder gesetzlich festgelegtes Einkommen aus Arbeitslohn, Alimentation bei Beamten oder Rente niedriger ist als bei den Verwandten im Westen, obwohl sie doch eine vergleichbare Leistung erbringen oder früher erbracht haben. Die Verwandten im Westen wiederum finden es ungerecht, wenn der Ostdeutsche bei der Rentenberechnung weniger Ausfallzeiten aufweist, zum Beispiel weil es in der DDR offiziell keine Arbeitslosigkeit gab oder weil die Ausbildungszeiten in dem stark verschulten Bildungswesen der DDR oft kürzer waren. Sie verweisen zudem auf das immer noch im Schnitt niedrigere Preisniveau im Osten.

Den Chefarzt einer Klinik in den neuen Bundesländern tröstet es bei der Betrachtung seines Rentenbescheids wenig, wenn ihm nachgewiesen wird, daß die Durchschnittsrente im Osten aus den genannten und anderen Gründen inzwischen höher ist als die durchschnittliche West-Rente, so daß die Rentner mit Recht als die großen Gewinner der Einheit bezeichnet werden können. Er vergleicht sich mit dem Kollegen aus einer Klinik im Westen, der eine vergleichbare Tätigkeit ausgeübt, aber schon früher viel mehr verdient hat und jetzt noch durch eine entsprechend höhere Altersversorgung privilegiert ist. Der West-Kollege verweist dann vielleicht auf die Ungerechtigkeit, daß seine Familie durch Bodenreform-Maßnahmen 1946 um Heimat und ihr gesamtes Hab und Gut gebracht wurde – wobei die Bundesrepublik Deutschland auch heute noch nicht daran denkt, dieses schreiende Unrecht wenigstens teilweise wiedergutzumachen, weil sie sich an den jetzt in ihrem Besitz befindlichen Ländereien bereichern möchte –, während sein Kollege aus dem Osten vielleicht das Glück hatte, in der Familienvilla wohnen bleiben zu dürfen oder das Seegrundstück inzwischen teuer verkaufen zu können. Die Beispiele für Ungerechtigkeit aus der Sicht der jeweils Betroffenen lassen sich unschwer vermehren. Nur – welche Schlußfolgerungen müssen daraus gezogen werden?

Zuerst einmal: Unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs haben die Deutschen unterschiedlich gelitten. Am schlimmsten traf es sicherlich die Heimatvertriebenen, in erheblichem Ausmaß auch die Opfer der flächendeckenden Bombenangriffe. Relativ gut kam im allgemeinen die ländliche Bevölkerung im westlichen Teil Deutschlands davon. Die Bevölkerung in der Sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, gleich ob Einheimische oder Vertriebene, wurde erheblich durch die Folgen der Besetzung des Landes durch die Sowjetunion – Willkür, Zwangsarbeit, dann auch die vom Klassenkampf gekennzeichnete Sowjetisierungspolitik – getroffen. Die Chancen, aus eigener Kraft wieder aus der Misere von Krieg und Nachkrieg herauszufinden, waren im östlichen Teil von Restdeutschland bis 1989 immer deutlich geringer als im Westen.

Diese mangelnde Chancengleichheit ist die Hauptursache für die heute so stark empfundene Gerechtigkeitslücke. Ihre Folgen im persönlichen Bereich und bei den Vermögensverhältnissen großer Teile des deutschen Vokes sind allenfalls zu mildern, sicherlich aber nicht mehr vollständig zu beseitigen. Grotesk ist nur, daß ausgerechnet die Partei des Demokratischen Sozialismus jetzt von dieser unzweifelhaften Gerechtigkeitslücke, die von ihren politischen Vätern in Moskau und Ost-Berlin zu verantworten ist, profitieren will.

Welche Folgerungen muß aber das wiedervereinigte Deutschland aus dieser so tragisch unterschiedlichen Entwicklung nach 1945 ziehen? Darf man sich einfach zurücklehnen und damit beruhigen, daß die Weltgeschichte nun einmal ungerecht ist und ihre Folgen die Menschheit halt in unterschiedlichem Maße treffen? Manche Zeitgenossen meinen, die Deutschen trügen sogar Verantwortung für alle Menschen, denen es schlechter als ihnen selbst geht, und müßten daher auch Wirtschaftsflüchtlinge aus der ganzen Welt aufnehmen, um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen. Sehr verbreitet ist diese Auffassung unter den Angehörigen der politischen Klasse in Deutschland. Sie ist wohl der Hauptgrund, warum diese politische Klasse den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit so fürchtet, daß sie lieber unser Sozialsystem unter der Last der Zuwanderer zusammenbrechen läßt, als etwas Wirksames gegen diese Zumutung zu unternehmen. Die Deutschen können jedoch nicht jede Folge von Ungerechtigkeit in der Welt ausgerechnet auf deutschem Boden beseitigen.

Aber gilt das auch für jede Ungerechtigkeit als Folge unterschiedlicher politischer Entwicklungen in Deutschland? Hier kommt eine weitere Denkkategorie, die beachtet werden will, in die Betrachtung: die nationale Solidarität. Sie hat beispielsweise in der alten Bundesrepublik nach 1945 unter schwierigsten Bedingungen das große Gesetzeswerk des Lastenausgleichs ermöglicht, ein Vorhaben, das zwar nicht geeignet war, die unterschiedlichen Folgen des Zweiten Weltkrieges völlig auszugleichen, aber sie doch wenigstens bei den Hauptbetroffenen etwas gemildert und somit ihre Chancen beim Neuanfang erhöht hat. Mit der 4.000-Mark-Zuzahlung an die Heimatvertriebenen in der ehemaligen DDR hat die Bundesrepublik versucht, an diese erfolgreiche westdeutsche Tradition anzuknüpfen. Nationale Solidarität ist wohl auch die einzige stichhaltige Begründung für die großzügigen Umtauschkurse, die 1990 bei der Einführung der Währungsunion den Besitzern von Ost-Mark gewährt wurden und aus wirtschaftlichen Gründen kaum zu rechtfertigen waren.

Zur dauerhaften Beruhigung haben diese und andere Maßnahmen mit finanziellen Folgen jedoch nur begrenzt beigetragen. Manches ist ja sicherlich auch grotesk, etwa wenn in Berlin die Beschäftigten eines öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers bei gleicher Arbeit unterschiedlichen Lohn erhalten, je nachdem, wo sie wohnen und ob sie ihre Arbeitsstelle im ehemaligen West- oder Ostteil der Stadt haben. Dies darf einfach nicht länger durchgehalten werden, wenn man dauerhafte Schäden im politischen Bewußtsein der Betroffenen vermeiden will. Soweit noch sachlich unbegründbare Unterschiede in den Lebensverhältnissen vorliegen – etwa bei den Wohnungskosten – kann und muß ihnen auf andere Weise Rechnung getragen werden.

Ansonsten ist es unsere wichtigste Aufgabe, im wiedervereinigten Deutschland wenigstens für die nachwachsende Generation ein Höchstmaß an Chancengleichheit als Voraussetzung für eine gute und gemeinsame Entwicklung zu schaffen. Wenn nicht alles täuscht, sind wir von diesem Ziel gar nicht mehr so weit entfernt. Auch wenn in Deutschland viel im Argen liegt - eine Tendenz zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West ist zehn Jahre nach dem Fall der Mauer einfach nicht zu übersehen. Die meisten Ostdeutschen konstatieren eine deutliche Verbesserung ihrer persönlichen Lebensverhältnisse gegenüber DDR-Zeiten, auch wenn viele die Hoffnung auf einen Staat, der "das Gute" jeweils aus DDR und alter Bundesrepublik zusammenfaßt, noch nicht aufgegeben haben. (Das Gute an Westdeutschland waren danach Freiheit und wirtschaftliche Effizienz, das Gute an der DDR die scheinbar nicht existente Arbeitslosigkeit und die niedrigen Mieten.)

Dennoch wächst auch im Osten Deutschlands die Zahl derer, die zu erkennen vermögen, daß das angeblich Gute in der DDR leider auch eine wichtige Ursache für den Zusammenbruch dieses Staates war. Er hatte einfach über seine Verhältnisse gelebt.

Aber im Osten wie im Westen wird wohl die Zahl derer nicht auf Null sinken, die auch nach dem Debakel des "real existierenden Sozialismus" die Hoffnung nicht aufgeben, daß es beim nächsten Versuch besser gelingen werde, einen Sozialismus aufzubauen, der sowohl menschlich als auch wirtschaftlich effizient ist. Auf die Attraktivität dieser Hoffnung kann sich die PDS auch weiterhin verlassen.

Für alle diejenigen, die nicht an das Ideal der sozialen Gleichheit von Staats wegen zu glauben vermögen, wird die Beseitigung der "Gerechtigkeitslücke" in Deutschland auch künftig bedeuten, sich auf dem mühsamen Weg der Suche nach Chancengleichheit wenigstens für alle Deutschen voranarbeiten zu müssen. Dem Ideal der Gerechtigkeit wird man sich dabei nur annähern können.

 

Detlef Kühn, 63, war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn. Von 1992 bis Ende 1998 war er Direktor der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien. Heute lebt er als freier Publizist in Berlin.


 
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