© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Pankraz,
die Spieldose und die deutsche Literatur ’99

Als Folge der Frankfurter Buchmesse hat sich Pankraz für 260 Mark mit neuen ("jungen") deutschen Romanen eingedeckt und sie in einem Parforceritt tatsächlich auch durchgelesen. Die Reklame für diese Sachen an den Ständen und in der Presse war so gewaltig. In Deutschlands junger Literatur, hieß es, sei "die pure Lust am Erzählen" ausgebrochen, es wimmele von "frischen, unverbrauchten" Talenten. Selbst abgebrühte Skeptiker bekamen da das Gefühl, bei Nichtbeachtung etwas Wichtiges zu versäumen.

Um aber gleich mit der unfrohen Botschaft herauszurücken: Weder der Literaturfreund noch der Zeitdiagnostiker versäumt etwas, wenn er die Lektüre bleiben läßt. Ob die Protagonisten bzw. Protagonistinnen nun E.N. oder J.F., Ch. K. oder B.v.S. hießen, ob J.L. oder B.V. oder A.S./R.D. – der Eindruck blieb immer der gleiche. Die Leute haben gar nichts zu erzählen, und deshalb können sie es auch nicht erzählen. Im alten Zeitungsjargon hätte man gesagt: Da werden auf Glatzen Locken gedreht. Und im Unterschied zu den alten Journalisten merken es die Dreher nicht einmal.

Es herrscht ein merkwürdig aufgekratzter, irgendwie mundfrischer Oberton, im Stile von "hoppla, jetzt komm ich". Nirgendwo Stimmbruch, nirgendwo Elegie oder Sehnsucht, aber auch nicht Zorn oder sonstige Aufregung. Man nimmt das Leben so, wie es ist (zu sein scheint) und macht allenfalls ein paar müde Glossen darüber. Realismus ist Trumpf, doch ist es ein Realismus zu stark herabgesetzten Preisen, wie man ihn aus der Tagesschau oder aus dem Reiseprospekt erfährt. An kein Ereignis ist man mehr unmittelbar angeschlossen, alles ist vermittelt und vorgekaut, alles ist Zeichen, das sich von selbst versteht.

Jedes Büchlein ist mit Sex parfümiert, indes, auch und gerade der als real beschriebene Sex ist hier bloßes Zeichen, die jeweils "Liebenden" wissen alles schon vorher, poussieren nach Malvorlage. Dem korrespondiert die horrende Direktheit, mit der die Vorgänge beschrieben werden. An sich ist das Pornographie, reicht aber an keiner Stelle an die "richtige", gewissermaßen klassische Pornographie heran, weil eben jeglicher Impetus zur Enthüllung, zum Tabubruch und zur Exorbitanz vollkommen fehlt. Auch beim Sex also Nulldiät, tote Hose.

Der Gesamteindruck ist, wie gesagt, deprimierend. Man fragt sich am Ende, weshalb man sich das angetan hat. Und man kommt ins Grübeln über die Ursachen. Diese "junge deutsche Erzählergeneration", so schwant einem, leidet sowohl an der Konkurrenz wie an der Transzendenz, respektive an der Transzendenzlosigkeit. Sie ist reines Konsumtier, sieht zuviel fern, macht zu distanzlos von den "reichen Angeboten" der Werbung Gebrauch. So stellt sie sich von vornherein und freiwillig in die zweite Reihe.

Sie will selber gar kein Leitmedium mehr sein, übernimmt automatisch die Perspektiven und Methoden des Fernsehens und der Werbung, was sich dann sofort in ihrer Sprache niederschlägt. Diese wird plakativ, flach zeichenhaft, aber nicht, wie einst bei den Futuristen, im Ton der Fanfare, die unerhörte Neuigkeiten ankündigt, sondern allenfalls im Ton des demütigen Waldhorns, das altbekannten Motiven hinterhersäuselt, die andere vorformuliert haben. Besser sollte man statt "Waldhorn" wohl "Spieluhr" sagen. Die "junge deutsche Literatur ’99", wie sie auf der Buchmesse präsentiert wurde, ist eine Spieluhr, eine Spieldose, die von der Werbung und vom Fernsehen aufgezogen worden ist.

Hier käme dann die Transzendenz bzw. Transzendenzlosigkeit ins Spiel. Die "junge deutsche Literatur ’99" ist eine Literatur ohne Transzendenz, von keiner Idee mehr beflügelt, die es auf den Boden der Tatsachen herunterzuholen gälte, willenlos, unfähig zur Grenzüberschreitung nach irgendeiner Richtung, auf eine ungute, anämische Weise "angekommen". Daher rührt übrigens auch ihre jammervolle PC-Hörigkeit. Sie hat die Vorschriften der PC komplett verinnerlicht, so wie sie verinnerlicht hat, daß man die und die Zahnpasta benutzen sollte, um "in" zu sein.

Fehlende Transzendenz bedeutet nicht zuletzt fehlende Kommunikationsfähigkeit. Wer keine Idee hat, der hat weder Zukunft noch Vergangenheit, und auch der Gegenwart hat er nichts zu bieten. Er ist nicht einmal in der Lage, seinem eigenen Ich Kontur und Farbe zu verschaffen, rührt hilflos in den "medialen Angeboten" herum, durchpflügt die Mode- und Zeitgeistmagazine hektisch nach angeblich identitätsstiftenden Klamotten und Accessoires.

Bezeichnenderweise kommt in den neuen "jungen" Büchern, die Pankraz gelesen hat, nur ein einziger mentaler Halteanker vor (an den sich die Erzähler dann freilich anklammert wie Ertrinkende): Nicht Religion oder Philosophie liefern diesen Anker, nicht soziales Milieu und schon gar nicht Heimat oder Nation, sondern die "Generation" ist es, die beschworen wird. Alle diese Autoren weisen immer wieder darauf hin, daß sie Angehörige dieser oder jener "Generation" seien; man vergewissert sich dessen, indem man etwa an bestimmte Popsänger erinnert oder indem man bestimmten Jargonfetzen von "damals" Kultstatus zuspricht.

Wahrscheinlich ist dies das Merkmal, das einen am melancholischsten stimmt bei der Lektüre der "jungen, frischen deutschen Erzähler ’99". Gemeinhin stiftet Erzählung ja Gemeinschaft, Menschen mit ganz verschiedenen Intentionen sammeln sich um einen Erzähler, weil er sie mit Sprache einfängt und in dasselbe Licht blicken läßt. Die "Erzähler ‘99" dementieren das in kruder Weise. Sie fangen nichts ein, sie grenzen vielmehr ab, vereinzeln – und speisen die Vereinzelten anschließend mit Werbesprüchen ab.

So etwas wird nicht gebraucht, so etwas kann man nicht einmal weiterverschenken. Wohin nun, um Himmels willen, mit all diesen neuen Büchern?


 
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