© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Zeitschriften: "wirselbst" – 10 Jahre Wir sind ein Volk
Teilung nie akzeptiert
Matthias Seegrün

Ende der siebziger Jahre: Deutschland ist seit mehr als dreißig Jahren besetzt. CDU und Sozialdemokratie freunden sich mehr und mehr mit dem Status quo der Teilung Deutschlands an und richten sich in diesem ein. Die Außerparlamentarische Opposition gerät in eine Krise. Das ist die Ausgangslage für Henning Eichberg, als er im November 1978 in der Zeitschrift dasda avanti zu den Thesen Rudi Dutschkes zur "Nationalen Frage" Stellung nimmt. Ein Nachdruck dieses Aufsatzes ist der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "wirselbst" zum zehnjährigen Jubiläum des Mauerfalls einleitend vorangestellt.

Eichberg analysiert darin die Bedeutung der nationalen Frage für die deutsche Linke. Er stimmt mit Dutschke überein, der die Problemblindheit der Linken bezüglich der deutschen Frage beklagt hatte. Über Ansätze hinausgehend sei diese von der Neuen Linken nicht thematisiert worden. Statt dessen habe die Studentenbewegung von 1968 eine Ersatzidentität in der Dritten Welt gesucht – beispielsweise in der Unterstützung der Forderung nach "nationaler Selbstbestimmung für Vietnam" – und so ihr ureigenstes Thema verfehlt und die nationalrevolutionäre Chance ungenutzt gelassen. Dennoch sei die nationale Frage aktueller denn je. Ihr Kern sei aber nicht das nationale Interesse, sondern die nationale Identität – nicht "Haben-wollen", sondern "sich kollektiv seiner selbst vergewissern, bei sich selbst zuhause sein".

Im folgenden hat die Zeitschrift Stimmen unterschiedlichster Couleur zur Wiedervereinigung zusammengetragen: nachdenkliche Erinnerungen, resigniert Enttäuschtes, Kritisches, aber auch Ermunterndes und hoffnungsvoll Zuversichtliches aus dem In- und Ausland.

In seinem Beitrag "Wie weit verbindet die Deutschen die gemeinsame Nation?" weist der SPD-Politiker und Theologe Richard Schröder darauf hin, daß der Ruf nach der deutschen Einheit 1989 nicht aus dem Westen kam, sondern aus dem Osten; nicht von den Bürgerrechtlern, sondern "von unten" – "von ganz normalen Bürgern aus Leipzig und aus dem Chemiedreieck." Die Bindekraft der Nation erachtet er als "beachtlich stark und nicht ernsthaft gefährdet". Die Stimmung sei schlecht, der Zusammenhalt aber gut. Angesichts der anstehenden Aufgaben appelliert er an das Wir-Gefühl der Deutschen. Würden die Deutschen sich weiterhin weigern, ein Volk unter Völkern zu sein, so könnte dies das Zusammenleben der Völker stören.

Weitere kurze Stellungnahmen zeitgenössischer Beobachter runden das Bild. Von Herbert Ammon über den 93jährigen Vertreter der dänischen Volkshochschulbewegung Poul Engberg, den estnischen Staatspräsidenten Lennart Meri, Johann Scheringer von der PDS, den Gründervater der ökologischen Bewegung Baldur Springmann, den dissidenten Grünen Rolf Stolz bis hin zur Bürgerrechtlerin Freya Klier und dem nationalen Liedermacher Friedrich Baunack spannt sich der Bogen der kontroversen Betrachtungen zur deutschen Einheit. Neben zahlreichen weiteren interessanten Beiträgen finden sich Anmerkungen des realistischen Malers Matthias Koeppel und selbst des Schriftstellers Reiner Kunze.

Besonders zu erwähnen ist, daß Christian Führer, der Pfarrer der im Zentrum der friedlichen Revolution von 1989 stehenden Nikolaikirche Leipzig, dazu gewonnen werden konnte, einige Erinnerungen und Gedanken an die Tage der Entscheidung im Oktober 1989 niederzuschreiben. Und sogar Ernst Elitz – früher Moderator von Sendungen wie "Kennzeichen D" und "heute-journal", seit 1994 erster Intendant des neuen Deutschlandradios – denkt in "wirselbst" über den deutsch-deutschen Humor nach. Sein Fazit: "Was sich liebt, das neckt sich. Gemessen an den Witzen, müssen die Deutschen wie wild ineinander vernarrt sein."

Besonders gelungen ist auch die Kombination der Interviews mit dem Regimegegner Albrecht Giese und dem ehemaligen DDR-Grenztruppenoffizier Ingolf Hermann von Elfriede Fink.

Abschließend denken Werner Olles und Hans P. über die eigene politische Entwicklung, nationalrevolutionäre Perspektiven und die Rolle von "wirselbst" nach und geben damit bereits einen Vorgeschmack auf das bevorstehende 20jährige Jubiläum der Zeitschrift.

Ausgabe 3/99 umfaßt 84 Seiten und ist für zehn Mark erhältlich beim Verlag S. Bublies, Postfach 200 222, 56001 Koblenz. Das Abo für vier Ausgaben kostet 46 Mark, für Schüler und Studenten 36 Mark.


 
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