© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Spielzeug: Konsum und Talmi erobern die Kinderzimmer
Computer statt Lego
Jutta Winckler-Volz

Günther Z. (35) hat ein Problem. Auch Verona Z. (37), seine Ehefrau, ist der Verzweiflung nahe. Beide geraten regelmäßig mit ihren Kindern in unfruchtbare Endlos-Diskussionen, welches Spielzeug denn nun schön, interessant und lehrreich sei. Die Vorstellungen der Sohnemänner Jens und Frieder und die ihrer Erzeuger sind dabei von so großer Gegensätzlichkeit, daß Günther Z. längst von Selbstzweifel geplagt wird, ob denn seine eigenen Anschauungen über "richtiges" Spielen nicht schon völlig weltfremd sein könnten. Ein großer Baukasten mit Lego-Technik, sein eigener Jungentraum, lockt seine Sprößlinge nicht mehr hinter dem Computer hervor, an dem die beiden am liebsten ein zünftiges virtuelles Geballer inszenieren.

Günther und Verona stehen mit ihren Sorgen, ihrem wachsenden Unverständnis keineswegs alleine da: Viele Eltern fallen "von einer Ohnmacht in die andere" (so die geplagte Alleinerziehende Derya H. aus Köln-Nippes), wenn sie mit den Spielzeug-Wünschen, wo nicht gar -Forderungen, ihrer Brut konfrontiert werden. Die Präferenzen der heutigen Kinder- bzw. Heranwachsenden-Generation unterscheiden sich radikal von denen von vor nur wenigen Jahren (um von denen ihrer Eltern und Großeltern erst gar nicht zu sprechen) – in nahezu keinem Fall decken sie sich mit den Vorstellungen und Wünschen ihrer Eltern.

Noch vor etwa zehn Jahren spielten neun- bis zwölfjährige Mädchen begeistert mit Barbie-Puppen, deren pädagogischen Wert zum Beispiel Achtundsechziger-Eltern gewiß eher für fragwürdig gehalten haben dürften. Heute landen selbst diese Figuren bereits bei den sechs- bis achtjährigen "Kids" in der Ecke und werden durch die heißgeliebte "Diddl-Maus" verdrängt. Bei Lego-Bausteinen endet das Spielalter mittlerweile mit spätestens zehn Jahren. Gesellschaftsspiele: Mensch-ärgere-Dich-nicht, Schwarzer Peter, Halma, Mühle, Mikado? Fehlanzeige! Wenig bis keinen Bock. Das bei Erwachsenen hoch im Kurs stehende Holzspielzeug? Nein, danke.

Spielen ist nichts anderes als das Nachahmen und Nachempfinden der Erwachsenenwelt. Spielerisch "begreifen" soll und wollte einst der Nachwuchs. Doch so, wie der vormalige Traumberuf zumindest aller Jungen, der Lokführer, längst passé ist, verlieren die Sprößlinge auch viel früher das Interesse an herkömmlichem Spielzeug. Spielten noch vor wenigen Jahren vierzehnjährige Knaben mit ihrer Modell-Eisenbahn, so lassen sich heute davon allenfalls noch Zehnjährige begeistern – bevor sie binnen kurzem endgültig zum Computer überlaufen. Was ist hier innerhalb weniger Jahre geschehen?

Es ist unübersehbar, daß sich nicht die Welt der Kinder, sondern zunächst die der Erwachsenen, die ihrer Eltern, massiv verändert hat. Spielexperten weisen darauf hin, daß unsere Gesellschaft auf dem Wege ist, vordem von breiten Kreisen beherrschte handwerkliche Fähigkeiten zu verlieren. Allen OBI-Umsatzrekorden zum Trotz schwindet die Zahl derjenigen, die noch in der Lage sind, mit ihren eigenen Händen etwas zu reparieren oder gar herzustellen. Es dominiert der Konsum – bei der Freizeitgestaltung, beim Einkaufen, im Urlaub. Der Computer bestimmt nicht nur die Arbeitswelt, sondern zunehmend auch die Freizeit. Die in diese elektronische Zweitwelt hineinwachsenden Kinder ahmen, ob Mädchen oder Junge, nach, was ihnen von den Großen tagtäglich vorgelebt wird.

So verblüfft es kaum, daß auf den Wunschlisten, die bezeichnenderweise keineswegs mehr an die Weihnachtszeit gebunden sind, herkömmliches Spielzeug kaum mehr zu finden ist: die "Millennium-Kids" (Bravo) verlangt es nach avanciertem Konsumgut. Umfragen bei bis zu Zwölfjährigen förderten zutage, daß sich die meisten einen Fernsehempfänger als "liebstes Spielzeug" wünschen. Danach folgen Videorekorder, Videospiel-Konsole, Fahrrad und eigenes(!) Telefon. Nicht von ungefähr hat z.B. die Deutsche Telekom bereits ein mobiles Telefon-Angebot speziell für Kinder auf den Markt gebracht. Immerhin mit Rufnummern-Begrenzung und einer Telefon-Karte, die unbeschränktes Anwählen verhindert. Und wer gerade nicht telefoniert, der kann auf dem Handy ein Spielchen machen – brave New World of Ron Sommer.

Gaben die Deutschen 1993 noch rund sieben Milliarden Mark für herkömmliche Spielwaren aus, so sank der Umsatz im Jahr 1998 auf viereinhalb Milliarden; unter dem Einbruch litt besonders der US-amerikanische Spielzeug-Discounter Toys’R’Us. Jahrelang an enorme Wachstumsraten gewöhnt, geriet das Unternehmen zuletzt in eine Existenzkrise. Das bisherige Supermarkt-Selbstbedienungskonzept, dem die Firma ihren Aufstieg vom Washingtoner Spielzeuglädchen zum Weltmarktführer verdankt, hat offenbar stark an Anziehungskraft verloren. Die riesigen Hallen, turmhoch mit Gesellschaftsspielen, Teddybären, Lego- und Playmobil-Kästen vollgestapelt, haben sich offenkundig überlebt. Die Pilgerfahrten ganzer Sippenverbände in den amerikanischen Toys-Tempel (inklusive Masseneinfall bei "McDonalds" oder "Burger King" um die Ecke) gehören der Vergangenheit an.

Die erfolgverwöhnte Kette setzte rapid ein Sanierungsprogramm aufs Gleis; neben der Schließung umsatzschwacher Filialen, vornehmlich auf dem Territorium der vormaligen DDR gelegen, werden nunmehr auch hierzulande sämtliche Märkte neu konzipiert, um den radikal veränderten Kunden- bzw. Kinderwünschen, wieder gerecht werden zu können; der Startschuß dazu fiel vor wenigen Tagen in der Kölner Firmenzentrale. Statt der düsteren, verwinkelten Ladengestaltung wird die Ware künftig in halbhohen Regalen "licht geordnet", und zwar nach jeweiligen "Themen": "Our Baby", Sport, Lernen, Geschenke, Kosmetik, Süßwaren. Und da man 1999 keineeinen "Kindergeburtstag" mehr feiert, sondern eine "Party for Kids" gibt, entstand eine neue Abteilung mit allerlei (für Eltern kostspieligem) Schnickschnack, der zur Grundausstattung solcher Festivitäten gehören soll.

Im Mittelpunkt aber steht künftig der Bereich für Videospiele, Kinderfernseher und CDs; in Barbie-Puppen, die am PC-Bildschirm von den Kindern im eigenen Mode-Design an- und ausgezogen werden, virtuellen Lego-Städten, die per Maus-Klick errichtet werden, und simulierten Autorennen und Schießereien sieht Helmut Hort, zweiter Toys-Geschäftsführer, die kommenden Umsatzgaranten. Klassisches Spielzeug gebe es freilich irgendwo auch noch.


 
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