© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Erschöpft vor Begeisterung
Gero Hilliger

Am 9. November abends begannen die "Tagesthemen" im ersten Programm verspätet. Nach der Hauptnachricht entschloß ich mich sofort, selber zur Mauer zu fahren und mir ein Bild von der Lage zu machen. Ich rief noch meinen Bruder und einen Freund an, mit denen ich dann um 23 Uhr am Steubenplatz in Charlottenburg startete. Erst fuhren wir über Hallesches Tor zum Bahnhof Friedrichstraße. Dort war aber nichts ungewöhnliches. Von dort fuhren wir nach Tiergarten zum Lehrter Stadtbahnhof in einer vollen S-Bahn und erreichten den Grenzübergang Invalidenstraße gegen Mitternacht. Hier strömten Menschenmassen. Trabanten und Fußgänger, die von drüben kamen, wurden laut begrüßt und umjubelt.

Die Tageszeitungen verteilten Sonderdrucke mit Stadtplänen. ZDF-Reporter berichteten live. Nach einiger Zeit trauten auch wir uns, die weiße Linie zu überschreiten, allerdings Richtung Osten. Die Grenzsoldaten diskutierten mit vielen Leuten. Berauscht von einem Glücksgefühl und den Rufen "Die Mauer muß weg!" erkletterten wir einen Teil der Grenzbefestigung. Mein Freund lieh sich kurz ein Megaphon und rief: "Jetzt kommt die Einheit!"

Danach liefen wir mit den von Westen Kommenden die Invalidenstraße entlang und konnten es nicht fassen, ohne weiteres in den Osten gegangen zu sein, woran sich die Ungewißheit knüpfte, wie man wieder herauskäme ohne die entsprechenden Papiere.

Nichtsdestotrotz liefen wir bis zur Ecke Friedrichstraße / Unter den Linden. Hier zögerten wir, ob es geschickter wäre, zum Alexanderplatz oder zum Brandenburger Tor zu gehen. Wir liefen zum Brandenburger Tor: Dort waren viele bewaffnete Grenzsoldaten zu beiden Seiten. Die Mitte allerdings war frei. Das nutzten wir und schritten durch das Brandenburger Tor: Was für ein Gefühl!

Auf der Mauer standen Menschen dicht an dicht. Der Vorplatz allerdings war eher leer. Hilfreiche Arme zogen uns auf die Mauer. Zum dortigen Erstaunen waren wir Westler. Als die Massen auf der Mauer sahen, daß die von Osten Kommenden sich auf dem Vorplatz frei bewegten, sprangen auch sie hinab, und das Brandenburger Tor wurde mehr und mehr umvölkert. Begeistert zogen einige mit einer BerlinFahne Richtung Osten durch das Tor. Von hier wurde bei dieser klaren Nacht viel fotografiert: Der volle Mond im Westen, die Massen rings um das Tor und auf der Mauer. Nach einiger Zeit gab es bereits die ersten Sonderausgaben der Zeitungen zu kaufen.

Völlig erschöpft vor Begeisterung und Glücksgefühlen fuhren wir um fünf Uhr morgens nach Hause. Nach dem Aufstehen waren wir selbstverständlich wieder unterwegs, so auch bei der Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg, wo unter anderem Willy Brandt sprach. Zu unserem Ärger und Unverständnis wurde die dritte Strophe der Nationalhymne von rot-grünen Pfiffen begleitet. Wir aber sangen aus ganzem Herzen.

Auch in den darauffolgenden Jahren trafen wir in der Nacht vom 9. auf den 10. November "Veteranen" mit und ohne Sektflasche am Tor, die ihre Version der historischen Nacht gerne erzählten und erzählen.


 
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