© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Gespräche im Stau
Alexander W. Bauersfeld

An jenem Abend, als Günter Schabowski, ganz unprommgemäß, die Ausreisefreiheit für DDR-Bewohner in die Mikrophone stotterte, saß ich mit Kollegen beim Gänsebraten in der Nähe von Nürnberg. Erst als ich mit dem Auto in Richtung Stadt fuhr, da traf mich wie ein Schlag die Stimme des Radiosprechers: "Die Mauer ist auf", dann die unvergeßlichen Worte "Wahnsinn" und immer wieder "Freiheit".

Sofort rief ich meinen Cousin Thomas an, dem ich erst im September mit Frau und drei Kindern über den Zaun der deutschen Botschaft in Prag geholfen hatte; er glaubte mir nicht. Wie sollte er dies auch glauben können, war diese Mauer doch Teil unseres Lebens. Ich war wegen kirchlicher Friedensarbeit zu drei Jahren politischer Haft in der DDR verurteilt, dann freigekauft worden; er blieb mit Familie hinter dem "antifaschistischen Schutzwall" ein Gefangener der Kommunisten.

Nun sah er aus der Freiheit, genau wie ich, den Untergang dieses Staates, der weder demokratisch noch eine Republik war. Wir ahnten beide nicht, wie schnell die Genossen der SED mit der Schnelligkeit von Wendehälsen eine neue PDS/SED schaffen würden.

Schlaf gab es in dieser Nacht kaum, statt dessen sog ich diese Bilder, diese Worte auf, sah die Tränen der Menschen, die mir auch kamen. Mit 13 Jahren hatte ich den Mauerbau erlebt, mit 41 Jahren sah ich sie endlich fallen. Mir fielen die Opfer ein, Peter Fechter, Chris Gueffroy und all die unbekannten Menschen, die von einem mörderischen System wegen "Republikflucht" ermordet worden waren.

Auf der Autobahn sah ich dann die vielen Trabants und Wartburgs, die noch über die Tschechoslowakei geflüchtet waren. Es gab viele Gespräche im Stau, und immer wieder kam dieses Glücksgefühl hoch: Deutschland, einig Vaterland.

Wir haben das Unrecht überwunden, diese große Genugtuung war es für mich, die mich auch die Bitternis der politischen Haft im nachhinein in einem anderen Licht erscheinen ließ.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen