© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/99 05. November 1999 |
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Tränen der Rührung Ekkehard Loch Auszug aus meinem Tagebuch vom 9. November: "Um 22 Uhr im Radio erfahren, daß in Ost-Berlin die Grenzen zum Westen offen sind. Die Mauer kann praktisch abgerissen werden. Mir sind vor Rührung und Freude die Tränen gekommen. Radio noch verfolgt. Deutschland-Lied abends noch auf Platte abgespielt." Freitag, 10. November 1989: "Durch die gestrigen Geschehnisse in Ost-Berlin bzgl.
der Reisefreiheit für die Zonen-deutschen sind mir wieder die Tränen vor Freude und
Rührung auf der Fahrt nach Neuenrade geflossen."Ich schäme mich meiner Tränen
nicht. Und so ist es heute nach zehn Jahren noch, daß ich beim Sehen dieser Szenen vom
November 1989 im Fernsehen oder in der Presse und Literatur genauso gerührt bin wie
damals: Zu Tränen gerührt vor Ergriffenheit. Für mich war damals ein Traum und Wunsch
in Erfüllung gegangen. An Dankgebeten hat es nicht gefehlt. Während des ersten Satzes eines Konzertes des berühmten Geigers Yehudi Menuhin mit dem English Chamber Orchestra in Leer, Ostfriesland, flüsterte mir meine Nachbarin aus dem Ort, die zu spät gekommen war, zu: "Die Mauer in Berlin ist von den Ost-Berlinern durchbrochen, ich habe deshalb noch die Nachrichten gehört und bin deshalb zu spät." Ich konnte mich auf die Musik gar nicht mehr konzentrieren. Auf dem Heimweg diskutierten wir mit den mitgenommenen Freunden über das Ereignis. Sie meinten, das würde an der politischen Struktur der deutschen Teilung nichts ändern, ich war der Ansicht, daß in einem Jahr Deutschland politisch wiedervereinigt sein würde.Genährt wurde diese Hoffnung von mehreren Reisen, die ich 1989 unternommen hatte, zweimal nach Berlin im Oktober, ein Sommeraufenthalt im August und eine Bildungsreise auf Thomas Müntzers Spuren nach Thüringen im Frühjahr. |