© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Jetzt war es endlich soweit
Ewald Holzmann

Am 9. November 1989 saß ich in einem schäbigen Zimmer in Bonn. Die Einrichtung des Zimmers war spartanisch, denn es war nur ein kurzer Aufenthalt in Bonn vorgesehen. Nach einem halben Jahrzehnt Arbeitslosigkeit hatte mir das Arbeitsamt eine Fortbildung zum "EDV-Fachmann" spendiert.

Ich schrieb an diesem Abend Computerprogramme. Spät in der Nacht schaltete ich mein Radio ein, um Nachrichten zu hören.Eigentlich wollte ich an diesem Abend nichts hören, da – wie immer an diesem Datum – mit der Monotonie tibetanischer Gebetsmühlen vergleichbar, offizielle Reueverlautbarungen zur Reichskristallnacht zu erwarten waren.

Das hörte ich das Unfaßbare! Meine Hoffnung, daß die verhaßte Mauer fällt, schien sich erfüllt zu haben. Ich bereute es, zum ersten Mal in meinem Leben, keinen Fernseher zu haben. Mich ärgerte auch, daß ich nicht in Berlin dabeisein konnte.Ich konnte nichts mehr machen. Vorbei waren die Vorbereitungen für den nächsten Seminartag. Ich war innerlich aufgewühlt, konnte nur noch zuhören, nur noch nachdenken.

Ich mußte an meine eigene Vergangenheit denken. Die Teilung Deutschlands war für mich das größte Unglück. Die Ostverträge von Willy Brandt waren die Initialzündung für mein politisches Denken. Ich war damals Schüler. Die Appelle des marxistischen Klassenlehrers, sich politisch zu engagieren, fielen bei mir auf besonders fruchtbaren Boden. Ich konnte zwar nicht viel tun, aber ich habe etwas getan. Ich verteilte zum Jahrestag des Berliner Mauerbaus Flugblätter auf dem Schulhof. Verhetzte Schüler haben die Flugblätter auf dem Schulhof aufgeschichtet und angezündet. Mein politisches Engagement habe ich mit Ausgrenzung und beruflichen Nachteilen bezahlt. Was in diesem Land Demokratie bedeutet, habe ich erfahren. Im eigenen Land fühlte ich mich fremder als irgendein Ausländer. An all dies mußte ich in jener Nacht denken.

Jetzt war es endlich soweit. Die Mauer war gefallen, mein unendlicher Wunsch in Erfüllung gegangen. Es war eine paradoxe Situation: Mußte ich nicht wegen dieses Denkens in einem schäbigen Zimmer in Bonn sitzen? Ein weiter Gedanke war: Was macht wohl Kohl daraus? War es nicht er, der 1988 die Wiedervereinigung aus dem Parteiprogramm streichen wollte?

Ich konnte nicht schlafen in dieser Nacht. Am nächsten Morgen Seminar. Aufregung! Jeder hatte an diesem Tag etwas wichtiges zu sagen. Besonders unsere neu zugereisten polnischen Mitbürger. Sie waren die einzigen, die sich nicht freuten, sondern ernste Diskussionen in ihrer Landessprache führten.

Am Samstag, später Nachmittag, der Münsterplatz in Bonn: Ich sah eine diskutierende Menschentraube. Irgendwie hatten es zwei Sachsen geschafft, ganz schnell nach Bonn zu kommen. Die Sachsen erzählten von den Zuständen in in der DDR. Sie erzählten auch von Ausgrenzung, Isolierung, Benachteiligung. Ich sagte ihnen, daß dies im Westen auch nicht anders ist. Sie wollten mir das nicht glauben.

Am Sonntag gab es in Bonn auch eine Feier. Ich schloß mich einer Gruppe Burschenschafter an. Wir zogen mit wehender Deutschlandfahne und dem Deutschlandlied auf den Lippen durch das nächtliche Bonn.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen