© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Schabowski druckste herum
Hendrik Brödenfeld

Ich traute meinen Augen nicht. Man war ja schon einiges von diesem Staat gewohnt, aber das hatte ich noch nie vorher gesehen. "Menschenhandel" prangte da auf den Titelseiten aller Zeitungen der DDR. "Verbrecherischer Menschenhandel der BRD", "Silberlinge für Ungarn", "Menschenhändler – als Malteser getarnt"... In riesigen Lettern ergoß sich eine Hetztirade über das Land. Haßpropaganda zum Anfassen.

Die alles geschah nach einem Sommer, dessen Luft atmosphärisch knisterte vor Spannung und Erregung. Denn ein Zauberwort geisterte von Kopf zu Kopf: Abhauen! Rübermachen! Zugegeben – Mut brauchte man schon. Am besten, man war jung und noch ohne Familie. Erst wagten es Einzelne, dann ganze Gruppen. Man sickerte bei Nacht und Nebel über die seit Mai nur noch lässig bewachte Grenze der Ungarn nach Österreich; in die Freiheit, nach Westdeutschland. Der Gedanke hypnotisierte. Auch die Daheimgebliebenen: Täglich Tagesschau im Ersten; wieviele waren es heute? Kein Tag, an dem es weniger wurden. Das mußte doch etwas im Lande bewirken! Nur – was würde geschehen? Alles stand still. Keine Verkrustung brach. Nur die übliche Haßpropaganda: "Alles Asoziale! Auf die kann unsere Gesellschaft verzichten..."

Aber man faßte auch Mut. Am Anfang die Heimlichen, die Bürgerrechtler. Solche von der Diktatur geschundenen Existenzen, die nie gebrochen werden konnten: alte Kommunisten, die schon unter Hitler wie Ulbricht leiden mußten, neben Künstlern, Schriftstellern, Kirchenleuten. Sie wagten das "Neue Forum", wollten sanft Reformen anstoßen. Man war ehrlich sozialistisch und wollte nichts als den gesellschaftlichen Dialog. Vorbild Perestrojka.

Verboten.

Verboten also, über das zu reden, was jeder täglich sah. Schweigen sollte man über den fortgegangenen Arbeitskollegen und die Bilder des Westfernsehens... Aber man schwieg nicht. Am wenigsten in Leipzig. "Was denn, eine Demonstration? Na, das wird enden wie immer: ein kleiner Haufen Unerschrockener mit Transparenten. Stasi in Zivil geht dazwischen, entreißt die Plakate. Festnahmen, polizeiliche Zuführung, Erniedrigung und Quälereien. So war es doch immer mit gewagten, kleinen Kundgebungen. Die setzen doch alles aufs Spiel, diese Leute! Ihre Familien werden zerstört, ihre Existenz. Selbstmörderisch, so etwas zu wagen."

So begann es auch diesmal. Nur geschah es jetzt regelmäßig, wöchentlich, montags. In Leipzig begann man, den Staatsorganen eine Menge Arbeit zu machen. Diese tüftelten nun an geheimen Einsatzplänen für den Tag X, den Tag der großen Abrechnung, an dem die Staatsmacht zeigen würde, wer der Herr im Lande ist. Es stand einiges auf dem Spiel. Auch die Jubelfeiern am 7. Oktober: 40 Jahre DDR. Das darf einem nicht vermasselt werden. Man sorgte also vor, plante schon vor Ort Internierungslager für alles Verdächtige: den Kirchengänger, den kritischen Künstler, den verdächtigen Nachbarn. Schon gab es Schwarze Listen.

Bis zum Oktober wurde noch geprügelt und zugeführt. Aber die Parole "Wir sind das Volk!" war so griffig, daß sie die Massen, ja die ganze Gesellschaft ergriff. Staatliche Gewalt blieb aus – Gott sei Dank! –, das Volk gewann allmählich die Oberhand. Nun waren Zehntausende wöchentlich auf den Straßen der großen Städte. Alle in vorbildlicher Disziplin. Man lebte im Taumel und konnte nicht fassen, wie alles so rasant und plötzlich möglich geworden war. Als sich die Mächtigen in Ost-Berlin endlich zu ersten Reförmchen bequemten, konnte das keinen mehr ernstlich zufriedenstellen. Dem Wolf im Schafspelz glaubte man nicht.

Die Woge der Demonstration wuchs mit jeder Woche. 30.000 waren es an jenem Donnerstagabend, die in nun schon gewohnter Weise den Demonstrationszug an der Johanniskirche in Gera begannen. Etwas völlig Unglaubliches aber sollte in dieser Nacht geschehen: Als ich – euphorisch von der Kundgebung – nach Hause kam, herrschte eine aufgeregte Stimmung in der Familie. Soeben hatte Schabowski auf einer Pressekonferenz sonderbar vieldeutige Dinge von sich gegeben. Es ging wieder mal um das Thema einer geplanten Reiseregelung für DDR-Bürger in den Westen. Schabowski druckste herum und ließ sich manche Antworten regelrecht aus der Nase ziehen. Es sah danach aus, als würde es bald möglich sein, auf Antrag mit Genehmigung in den Westen reisen zu dürfen.

Phantastisch!

"Phantastisch" aber war gar kein Ausdruck für das, was jetzt kam: plötzlich flimmerten Bilder über die Mattscheibe, die uns in lauten Jubel versetzten. Da hatten sich wirklich in Ost-Berlin spontan an verschiedenen Grenzübergängen Leute versammelt, die versuchen wollten, jetzt schon – ohne Genehmigung – nach West-Berlin zu gelangen. Natürlich wurden sie nicht gelassen, sie gingen einfach los. Es funktionierte. Kein Schuß fiel, kein Grenzer verlor die Nerven. Freudentaumelnd stolperten sie über die Todesgrenze, zu Hunderten. Der 9. November ging in die Geschichte ein.

Noch ein Tag Schule, dann sollte ich zum ersten Mal mit Eltern und Schwester auf der anderen Seite des Brandenburger Tores stehen dürfen - eingekeilt inmitten Tausender freudetrunkener Landsleute. "Die Einheit Deutschlands ist doch jetzt das nächste Ziel?" fragte mich der Student aus Mannheim. Ich war verblüfft. Daran hatte ich noch gar nicht zu denken gewagt. Wir waren alle noch so genügsam in unserem Glück.


 
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