© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/99 12. November 1999


Kommentar
Gemeinsinn
von Klaus Motschmann

Die Auseinandersetzungen um die Lösung unserer wirtschaftlichen und sozialen Probleme erinnern an das Unvermögen jenes verzweifelten Lehrmädchens, das Schaufenster ihres Geschäftes blank zu putzen. Trotz aller Anstrengungen und Anwendung aller möglichen Putzmittel waren einige größere Flecken nicht zu beseitigen – bis der Chef kam. Er wischte sie ohne jede Anstrengung mit einigen Handbewegungen ab, und zwar von der Innenseite des Schaufensters.

Es gehörte bis vor wenigen Jahren zu den Binsenweisheiten seriöser Wirtschaftspolitik, daß die Konjunkturen und Krisen nicht allein und nicht einmal in erster Linie von "äußeren", sondern in gleichem Maße auch von "inneren", d.h., von religiösen, traditionellen, ideologischen und psychologischen Faktoren bestimmt werden, die miteinander eng verbunden sind. Die Beachtung und Föderung dieser "Verknüpfung aller Dinge" ist deshalb die entscheidende Voraussetzung der wirtschaftlichen Konjunktur – und nicht die Bereitstellung von noch so viel Kapital.

Der berühmte Militärtheoretiker Carl von Clausewitz hat auf diesen Zusammenhang von "Bereitstellung" und "Bereitschaft" in seinem Buch "Vom Kriege" (1832) mit folgender Feststellung hingewiesen: "Wollen wir den Gegner niederwerfen, so müssen wir unsere Anstrengung nach seiner Widerstandskraft abmessen. Diese drückt sich durch ein Produkt aus, dessen Faktoren sich nicht trennen lassen, nämlich: die Größe der vorhandenen Mittel und die Stärke der Willenskraft."

Die Stärke der "Willenskraft" wird in erster Linie durch Werte wie Disziplin, Sparsamkeit, Gewissenhaftigkeit, Leistungswillen, Opferbereitschaft, Gemeinsinn bestimmt. Sie ist aus eben diesem Grunde systematisch zersetzt worden, u.a. durch den Hinweis darauf, daß sich mit diesen "Tugenden" auch die Konzentrationslager leiten ließen.

Statt dessen werden die Lösungen sehr einseitig im Rahmen rein wirtschaftlicher Entscheidungen (Steuern, Beiträge usw.) gesucht, wobei offensichtlich übersehen wird, daß exakt diese Denkart und Handlungsweise zur Auflösung der Weimarer Republik geführt haben. Die letzte parlamentarische Regierung unter dem Sozialdemokraten Hermann Müller zerbrach im März 1930 am Streit über die Einschränkung der Sozialversicherung bzw. die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um ein halbes Prozent (!) – und nicht am Widerstand der Nationalsozialisten. Diese verfügten aufgrund eines Stimmenanteils von 2,6 Prozent bei den Reichstagswahlen vom Mai 1928 lediglich über 12 der knapp 500 Abgeordnetenmandate.Wo also bleiben auch in diesem Zusammenhang die sonst so gern zitierten "Lehren der Geschichte"?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politische Wissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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