© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/99 12. November 1999


Novembergedanken
von Hans-Peter Rissmann

Es ist Dienstag, der 9. November 1999. Zehn Jahre Mauerfall. Zehn Jahre Freude über die wiedererlangte Einheit. Zehn Jahre Triumph der Hunderttausenden Bürger, die in Leipzig, Berlin, Dresden, in der damaligen DDR auf die Straßen gegangen sind, um für ihre Freiheitsrechte einzutreten. Es ist einer der glücklichsten Tage in der Geschichte der Deutschen. Kaum ein Tag, der so dazu angetan ist, ungeteilte Freude über das Gelingen des eigenen Weges auszudrücken und des Wertes demokratischer Freiheit zu gedenken. Gefeiert werden sollte deshalb an so einem Tag in erster Linie das Volk und seine Menschen, die das Schicksal mutig in die eigene Hand genommen haben. Hier hat Vera Lengsfeld (siehe Interview auf Seite 3) vollkommen recht.

Insofern ist es bedauerlich und ein Fehler, wie halbherzig die Verantwortlichen seitens der Institutionen des Bundes – Bundespräsident, Bundesregierung, Bundestag – mit diesem Datum umgehen. Statt dessen wurden überwiegend die Selbstbeweihräucherungen derjenigen betrieben, die in Wahrheit von den damaligen Ereignissen überrollt und übermannt wurden. Staatschefs, die mit staunendem Blick zusehen mußten, wie die Deutschen aus der DDR die Selbstbestimmung und Einheit ihres Volkes auf die Tagesordnung setzten, wo sie nach Überzeugung aller tonangebenden Kräfte in den westdeutschen Medien und Parteien, der europäischen Regierungen und Supermächte nicht hingehörte. Doch die Rufe "Wir sind ein Volk" und "Deutschland einig Vaterland" konnte nicht weiter unterdrückt werden, der Weg zur Einheit war frei.

Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmung haben durch den 9. November 1989 eine neue Färbung gewonnen. Die Legende von der verspäteten Nation, vom demokratischer Nachhilfe bedürfenden deutschen Volk wurde wiederlegt. Und dies auf eine friedliche und sympathische Weise, die die Herzen aller europäischen Völker für sich gewann. Die Regierungen trugen Bedenken, die Völker nicht. Darum ist es bedenklich, wenn sich zehn Jahre nach der Manifestation eines durch eine gemeinsame Verfassung und demokratische Ordnung verbundenen Volkes Politiker und Publizisten daran machen, den zentralen Begriff des Grundgesetzes aufzulösen, den des "deutschen Volkes". Die Männer des 20. Juli 1944, die Aufständischen des 17. Juni 1953 und die Bürgerrechtler und Demonstranten des Novembers 1989 haben aus der Überzeugung gehandelt, daß ein ethisch begründetes Gemeinwesens nur denkbar ist mit einem Bezug auf ein konkretes und historisch gewachsenes Volk. Wer den Begriff des Volkes auflöst, zerstört die Grundlage der Demokratie.


 
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