© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/99 12. November 1999


9. November 1989: Gespräch mit der Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld über zehn Jahre Mauerfall
"Es war eine Stunde der Akteure"
Dieter Stein

Ehemalige DDR-Bürgerrechtler haben die offiziellen Feierlichkeiten der Bundesregierung zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls kritisiert. Wird hier die demokratische Wende von oben umgedeutet?

Lengsfeld: Meiner Meinung nach ist dieses Vorgehen ein Anzeichen dafür, daß die Politiker heute immer noch nicht begriffen haben, was sich damals abgespielt hat. Der 9. November war keine Stunde der Politik. Im Gegenteil: Die Politik ist von den Ereignissen überrascht worden. Es war die Stunde der Akteure vom 9. November, es war eine Stunde des Volkes. Es war die Stunde der Menschen, die damals ihre Rechte eingefordert haben, die ihr Schicksal in die eigene Hand genommen haben. Die Politik ist davon überrascht worden und mußte dann reagieren. Tatsächlich aber hatte die Politik sehr wenig Handlungsspielraum. Am Abend des 9. Novembers gar nicht, aber auch später ist es einer der wenigen Abschnitte in der Geschichte gewesen, wo die Politik nicht von den Politikern bestimmt und gemacht worden ist, sondern wo die Politiker nur reagiert haben auf die sich rasend schnell entwickelnden Ereignisse.

Was vermissen Sie?

Lengsfeld: Die einzig angemessene Form, die meiner Meinung nach hätte gefunden werden müssen, um dieses Ereignis zu feiern, wäre eine große Parlamentsfete gewesen, wo das Parlament Berliner Bürger, die den Mauerfall mitgemacht haben, eingeladen hätte: man hätte gemeinsam gefeiert und sich gemeinsam an diese Stimmung damals, an die ungeheure Freude erinnert. Diese regierungsamtlichen Gedenkreden finde ich aber völlig daneben.

Finden Sie in der westdeutsch geprägten Demokratie nicht generell eine eigentümliche Distanz, ein Mißtrauen gegenüber dem Volk?

Lengsfeld: Ich glaube, daß es sich hier weniger um Angst vor den Menschen handelt, sondern um Unverständnis. Es ist ein Unvermögen, den Gang der Dinge damals richtig einzuschätzen.

Sind die Bürgerrechtler politisch und gesellschaftlich an den Rand gedrängt worden? Sie selbst haben vor drei Jahren die Bündnis-Grünen verlassen und sich der CDU angeschlossen.

Lengsfeld: Ich bin nicht gewechselt, weil wir an den Rand gedrängt wurden, sondern weil sich da etwas zusammengetan hat, was nicht zusammengehört und nie zusammengewachsen ist. Ich war nicht an den Rand gedrängt, sondern war von Anfang an der rechte Rand der Grünen. Obwohl wir einen sehr langwierigen Vereinigungsprozeß absolviert haben – ein Jahr haben wir mit den Westgrünen verhandelt –, hat es sich dann herausgestellt, daß dies nicht verhindern konnte, daß diese Vereinigung nicht funktionierte. Die wenigen Bürgerrechtler, die bei den Grünen noch geblieben sind, stellen eine winzige Gruppe dar und sind völlig frustriert.

Bedauern Sie überhaupt diese Entwicklung, daß die Bürgerrechtler über alle politischen Lager verstreut sind und es keine einheitliche Stimme mehr gibt?

Lengsfeld: Ich bedauere das überhaupt nicht. Die Bürgerrechtler hatten eine bestimmte Funktion und Aufgabe 1989. Diese Funktion ist aber mit der Vereinigung weggefallen.

Sie waren Türöffner?

Lengsfeld: Wir waren nicht ganz unbeteiligt an der Vorbereitung dieser revolutionären Ereignisse im Herbst 1989. Westliche Beobachter haben sich immer gewundert, warum es im Herbst 1989 zu diesem relativ raschen Flächenbrand gekommen ist. Nach den ersten Leipziger Montagsdemonstrationen breiteten sich die Demos ja wie ein Heidefeuer über die ganze DDR aus. Überall dort, wo schon seit Jahren eine Oppositionsgruppe gearbeitet hatte, war sie der Kern für die Organisation dieser Demos. Diese Gruppen genossen Vertrauen und hatten im Herbst deshalb immensen Zulauf.

Wurden die Bürgerrechtler aber nicht genauso wie die Regierenden nach dem 9. November 1989 überrascht durch das Tempo der Entwicklung? Die meisten von ihnen glaubten ja, man könne die DDR noch retten?

Lengsfeld: Diesem Irrglauben hingen wir ja noch nach dem Fall der Mauer an. Das war situationsbedingt. Wir sind in einer geschlossenen Gesellschaft aufgewachsen, hatten uns nie träumen lassen, daß zu unseren Lebzeiten diese Gesellschaft wieder verschwindet, und hatten höchstens gehofft, daß man sie erträglicher machen, daß man unsere Spielräume ausweiten, daß man ein wenig demokratisieren kann. Daß es eine reale Chance gab, die DDR abzuschaffen, damit hat niemand ernsthaft gerechnet. Auch nach dem Mauerfall nicht. Das ist durch den Druck der Menschen erzwungen worden. Sehr schnell wurde Anfang Dezember auf den Montagsdemonstrationen der Ruf nach Vereinigung laut. Danach war das nicht mehr aufzuhalten.

Wie bewerten Sie es, daß nun selbst in der CDU Stimmen nach einer Annäherung oder Neubewertung der PDS laut werden?

Lengsfeld: Glücklicherweise handelt es sich dabei um ein Gerücht, daß es in der CDU Annäherungen an die PDS geben soll. Wir haben darüber sehr intensive Debatten geführt, und sowohl Schäuble als auch Merkel haben klargestellt, daß sie keine Annäherung an die PDS wollen, sondern sie wollten klar machen, daß eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der PDS gefragt ist. Das ist eine Sache, die von der CDU in den vergangenen Jahren als einziger Partei betrieben wird. Eine Annäherung wäre fatal, weil dies ein Eingehen auf die PDS-Strategie wäre, die nach jahrelangen Wahlerfolgen in einer strategischen Falle sitzt. Sie siegen sich im Moment zu Tode, stehen aber ohne Partner da, da die SPD mittlerweile erkannt hat, welches gefährliche Spiel sie gespielt hat. Die SPD wird sich auch in Zukunft stärker von der PDS fernhalten. Desgleichen die Bündnisgrünen, für die ihre Kungelei mit der PDS lebensgefährlich geworden ist.

Joachim Gauck hat vor wenigen Tagen darauf hingewiesen, daß die Motive, PDS zu wählen, gemischt sind. Eine große Rolle spielte das Gefühl der Heimat, das Gefühl der Vertrautheit, das die PDS erzeugt.

Lengsfeld: Wenn man sich die Anträge ansieht, die die PDS im Bundestag eingebracht hat, so waren diese ganz kraß von 1990 bis 1994 bis auf einen einzigen Fall Anträge zugunsten der alten SED-Funktionärsschicht. Seit 1994 ist das etwas weniger kraß gewesen, aber immer noch überwiegen Anträge, in der sie die Interessen alter SED-Funktionseliten vertritt. Die PDS schafft es aber sehr erfolgreich, mittels ihrer propagandistischen Tricks so zu tun, als sei sie die Interessenvertreterin aller Ostdeutschen. Dieser Trick ist ihr gelungen, weil die Mehrheit das Programm der PDS nicht zur Kenntnis nimmt und die PDS beurteilt nach ihren Slogans und Plakaten. Unüberbietbar ist die PDS auch in ihrer Demagogie. So kritisierte die PDS den Auftritt von Gauck zur Feier des Bundes zum 9. November, weil Gauck für die "dunkelsten Kapitel der DDR-Geschichte" stehe. Das ist blanker Hohn. Gauck steht für die Aufklärung der dunkelsten Kapitel der DDR-Geschichte! Doch die PDS steht vor einem Strategiewechsel, weil sie spürt, daß die Ossi-Nummer der Vereinigungsverlierer nicht mehr zieht. Die PDS verliert signifikant bei jungen Leuten an Anhängerschaft. Für die Jugend ist die PDS nicht mehr die Protestpartei. Es ist ihr nicht gelungen wirklich neue Wählerschichten zu erschließen. Sie versucht nun mit Macht ihre Westausdehnung.

Könnte die Idee des 9. November, daß das Volk das Schicksal in die eigenen Hände nehmen soll, nicht auch heute die Menschen erfassen angesichts von Wahlmüdigkeit und Parteienverdrossenheit?

Lengsfeld: Vor allem muß man ihnen klarmachen, daß es sich lohnt, für Demokratie zu kämpfen und seine Rechte zu nutzen.

Herrscht nicht eine Abneigung in der politischen Klasse vor, den Bürger direkt in Entscheidungen einzubinden? Die CDU hat doch 1998 einen ungeheuren Erfolg mit der Unterschriftenkampagne gegen den Doppelpaß gehabt. Dieses Konzept scheint aber gleich wieder in der Versenkung verschwunden zu sein. Will man sich direkter Demokratie und plebiszitären Elementen nicht mutiger öffnen?

Lengsfeld: Ich war selbst eine Befürworterin von mehr plebiszitären Elementen in der Demokratie. Mittlerweile bin ich da skeptischer geworden.

Der 9. November ist doch aber ein gigantisches Plebiszit gewesen.

Lengsfeld: Mit Recht! Aber es war die Abschüttelung einer Diktatur. Jetzt sind wir aber in einer Demokratie, und das ist eine grundlegend andere Situation. Was notwendig war, um eine Diktatur abzuschütteln, muß nicht notwendig sein für eine Demokratie.

Halten Sie dann auch die Unterschriftensammlung gegen den Doppelpaß für problematisch?

Lengsfeld: Nein. Ich habe ja mit gesammelt. Das war eine Situation, in der klar war, daß die Regierung etwas durchdrücken will, was den elementaren Interessen der Mehrheit der Deutschen zuwiderläuft. Da war die Unterschriftenaktion ein probates Mittel dagegen.

Im Reichstag soll es eine "künstlerische Installation" geben, in der durch den Schriftzug "Der Bevölkerung" die Inschrift "Dem deutschen Volke" konterkariert werden soll.

Lengsfeld: Das ist wieder das bekannte Zeitgeistsurfing. Was immer solche Leute intendieren, sie erreichen damit genau das Gegenteil. Natürlich sind wir ein Volk! Wir sind Deutsche. Es muß den Deutschen erlaubt sein, eine nationale Identität zu haben, sich als Volk zu begreifen. Wer das aushebeln will, wird genau das Gegenteil davon erreichen, was er zu beabsichtigen vorgibt.

 

Vera Lengsfeld Diplomphilosophin, wurde am 4. Mai1952 in Sondershausen in Thüringen geboren. Nach ihrem Diplom an der Humboldt-Universität Berlin war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften der DDR und Lektorin. Von 1975 bis 1983 war Vera Lengsfeld Mitglied der SED. 1983 Berufsverbot und Parteiausschluß, nachdem sie öffentlich gegen die Atomraketenstationierung in der DDR Stellung genommen hatte. Januar 1988 Verhaftung und einen Monat später Abschiebung nach England. Rückkehr in die DDR am 9. November 1989 und Eintritt in die Grüne Partei, Mitglied des Vorstandes von März bis Oktober 1990. Im Dezember 1996 trat sie zur CDU über. Seit Oktober 1990 gehört Vera Lengsfeld dem Bundestag an, seit Dezember 1996 ist sie Mitglied der CDU-Fraktion.


 
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