© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/99 12. November 1999


Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben / Ein offener Brief an den Kritiker
"Lieber Marceli Ranicki"
Andrzej Madela

Sobald Literaturkritiker in die erzählende Schwergewichtsklasse wechseln, fallen mir unweigerlich Ihre Berufsgenossen Hellmuth Karasek und Fritz Raddatz ein: waschechte Mannsbilder, solange sie über Literatur schreiben, und richtige Versager, sobald sie selbst welche fabrizieren. Und gerade wegen der auffällig wohlwollenden Rezensionen habe ich befürchtet, daß Sie sich als ein Axel Schulz Ihres neuen Fachs entpuppen. Dem Vernehmen nach war die nicht eben kurze Reihe Ihrer Opfer bereits dabei, die Messer zu wetzen, während Ihr Buch noch in der Rotationspresse steckte. Mir selbst fallen mindestens ein Dutzend Namen ein, deren Träger den Verriß so richtig genüßlich an Ihrem Werken gern praktiziert hätten.

Nachdem ich aber Ihr Opus aus der Hand gelegt habe, muß ich sagen: Respekt, lieber Marceli Ranicki, wie Sie die diffizile Kunst von Darstellung und (noch wichtiger:) Auslassung beherrschen. Ich folge Ihnen auch deshalb so gern auf Ihren jüdisch-polisch.deutschen Spuren, weil Sie auch als Buchautor ein unverkennbarer Zeitungsschreiber bleiben. Sie verzichten wohltuend auf theorielastigen Ballast, konzentrieren jedes Kapitel um ein herausgehobenes Ereignis und scheuen auch die Anekdote nicht. Selbst wo Sie eindeutig belehren, tun Sie es unterhaltsam. Vor allem haben Sie begriffen, was Verfasser von Autobiographien mehrheitlich nicht geregelt bekommen: daß nämlich ein Leben nicht in seiner Gänze erzählenswert ist. Und wenn Sie sich noch mit Ihrem Kommentar zurückhalten und so die Ereignisse sprechen lassen, dann sind meiner Literaturlust Tür und Tor geöffnet. Das Beste an Ihrem Buch ist die Schilderung Ihrer Berliner Jugendjahre. Hier gelingen Ihnen echte Kabinettstückchen. Vorzüglich zum Beispiel Ihre eindringliche Deutung des rasanten Aufstiegs des ruhelosen, ja neurasthenischen Gustaf Gründgens zum einflußreichsten Theaterintendanten in Berlin. Eindrucksvoll auch Ihre Beobachtungen zu den Theaterheroen der Zeit, insbesondere Werner Krauss und Veit Harlan. Und Sie fangen einmalig die Atmosphäre dieser Zeit zwischen Anpassung und Verfolgung ein, indem Sie das Zwitterhafte und Unfertige an Kunst wie Künstler herausarbeiten und durch einen Vergleich des Schauspiels eines Krauss mit dem eines Gründgens sinnfällig machen.

Doch auch wenn Sie nicht über Ihre Theater- und Musikleidenschaft, sondern über banalere Vorgänge erzählen etwa den Alltag in einer durchaus noch nicht gleichgeschalteten Schule-, selbst dann funktioniert die Detailkenntnis erstaunlich präzise. Das gilt gleichermaßen für Ihre gänzlich unheroische, aber hochmomplexe Darstellung des Warschauer Ghettos. Sie steuern geradezu en passant eine Schilderung des dortigen Kulturlebens bei, an dem Sie selbst teilhatten; Sie beschreiben exakt die vielschichtige soziale Struktur; und Sie sparen Ihr gespanntes Verhältnis zu den polnischen Nachbarn ebensowenig aus wie die allgegenwärtige deutsche Literatur, die Sie sich auf den abenteuerlichsten Wegen zu beschaffen wußten.

Allerdings läßt Ihre Erinnerung empfindlich nach, sobald das Schlimmste überstanden ist. Bei Ihren 14 Jahren im Polen der Nachkriegszeit setzt ein Gedächtnisschwund größten Ausmaßes ein: Die meisten Bekannten haben bei Ihnen keinen Namen, kaum eine Figur erscheint deutlich gezeichnet und die vielgestaltige unmittelbare Nachkriegskultur geradezu profillos. Unbegreiflich, vor wem Sie da kneifen. Ist Ihnen bange, daß Ihre Tätigkeit für die polnische Staatssicherheit nochmals aufgekocht wird? Oder mehr noch davor, daß die konservative Deutsche Verlags-Anstalt einen ebensolchen Leser voraussetzt, der Ihre eifrige Kooperation möglicherweise nicht goutiert? Wer ist eigentlich der Bedenkenträger: Sie selbst, weil es Ihnen sichtlich peinlich ist, zuzugeben, daß es mehr als ein Flirt war, oder der Verlag, weil er um den Rubel in der Kasse fürchtet?

Himmeldonnerwetter, hauen Sie doch einfach mal mit der Faust auf den Tisch und sagen: Jawohl, ich habe aus Überzeugungen gedient - als Sicherheitsoffizier und als einflußreicher Literaturkritiker, als Lektor und Buchautor, als Übersetzer und Interviewer. Und stilisieren Sie sich nicht zum Opfer dort, wo Sie selbst als Täter dastehen. Sie waren doch einer der eifrigsten Verfechter des sozialistischen Realismus, und Ihre stramm marxistische "Geschichte der deutschen Literatur" legt ein beredtes Zeugnis davon ab. Und keine Angst, daß Ihnen die Kooperation mit einer kommunistischen Macht zum Nachteil gereicht: die Zahnspangen-Generation hat keine Ahnung, wo Polen liegt, und der "konservative" Leser existiert nur noch in der Phantasie einiger Gestriger.

Und mal im Ernst: Glauben Sie wirklich, daß sich auch nur eine gewichtige Stimme in Deutschland findet, die Ihnen, einem Überlebenden aus dem Ghetto, vorwirft, einer Ideologie gedient zu haben, die ganze Generationen bis in die siebziger Jahre hinein als die Erlösung schlechthin in ihren Bann zog? Was hält Sie davon ab zu sagen, daß Sie Ihren Aufstieg in Polen zwei Tatsachen zu verdanken hatten - Ihren Kenntnissen und Ihrer Herkunft? Sie gehörten damals zu einer zahlenmäßig zwar schmalen, im öffentlichen Leben aber überauf präsenten Schicht, die, dem Tod knapp entkommen, sich mit innerster Überzeugung dem Marxismus zuwandte. Doch blieb sie den meisten Polen fremd, und dazu trug nicht nur der Übereifer ihrer moskauhörigen Mission bei, sondern genauso die auffällige Eilfertigkeit ihrer Anpassung an die polnische Umwelt.

Der Übereifer und die Mission - sie wurden erwartet (und erzwungen), und bis zum Antritt von Chrustschow waren sie auch ein hohes Gut kommunistischer Ethik. Das änderte sich nach dessen berühmter Geheimrede über den Stalin-Kult schlagartig, und spätestens an den reihenweise ausgewechselten Kadern in Polizei, Verwaltung und Kultur müssen Sie es auch mibekommen haben. Wieso schreiben Sie nichts davon? Dabei ist auch Ihren letzten polnischen Publikationen der Wille zur Botmäßigkeit nicht abzusprechen, stellten Sie doch in der Trybuna Ludu nur wenige Monate vor Ihrer Flucht die Bücher eines Heinrich Böll in eine Reihe mit profaschistischem und revanchistischem Gedankengut der frühen Bundesrepublik - eine staatskonforme Leistung erster Güte.

Tue ich Ihnen ein Unrecht an, wenn ich behaupte, daß der entscheidende Grund für Ihre Flucht nicht die Liebe zur deutschen Literatur war, sondern der abrupte Verlust der einflußreichen Position, die Abschiebung in die zweite Reihe, ja die Angst vor einer brotlosen Zukunft in der Provinz?

Sie gestatten, daß ich folgendes festhalte: An Ihre Jugend und frühen Mannesjahre in Berlin und Ghetto entsinnen Sie sich mit phantastischer Genauigkeit, beim Mittelteil Ihres Lebens vollführen Sie einen perfekten Eiertanz um Ihr kommunistisches Engagement. Sie verharmlosen und banalisieren Ihre überaus einflußreiche Stellung als Kritiker und Herausgeber - übrigens unter Beibehaltung einer recht geistreichen Plauderei. Ihre Erinnerung an die Jahre in der Bundesrepublik, wo Sie seit 1958 leben, ist eine gekonnte Mischung aus beiden: die Genauigkeit der Beobachtung und Vorliebe fürs Detail nehmen wieder zu (ich habe Tränen gelacht, wie Sie den späteren Nobelpreisträger Canetti als würdevollen Wichtigtuer porträtierten), andererseits wird Ihre Erinnerung spürbar selektiver, man muß schon sagen: taktvoller. Solche Bücher pflegen Diplomaten nach ihrer Versetzung in den Ruhestand zu schreiben: zweckdienlich und nicht ohne Detailkenntnis, aber doch mit genügend Schleier rundherum, den zu neugierigen Blick abzuweisen.

Wer etwa wissen wollte, wie Ihre Redakteure in Ihrer produktivsten Zeit als Chef des FAZ-Feuilletons hießen, wird keinen einzigen Namen finden. Nahezu vergeblich wäre auch die Suche nach einem Urteil über das Gesamtwerk eines lebenden deutschen Autors (Günter Grass und Siegfried Lenz finden sich eher als Personen denn als Schriftsteller porträtiert), und auch die abrupten Brüche in Ihren langjährigen Freundschaften erläutern Sie mit keiner Zeile. Bei Joachim Fest machen Sie noch eine Ausnahme, bei Walter Jens und Hans Mayer trauen Sie sich nicht mehr. Keine Hemmungen haben Sie hingegen bei verstorbenen Autoren: neben der nicht sehr vorteilhaft gezeichneten Ingeborg Bachmann und einem sehr differenzierten Bild über Heinrich Böll sind es vor allem Thomas Bernhard und der sehr ungleiche Max Frisch, die immer noch Ihre Phantasie beschäftigen. Unserem Klatschbedürfnis geben Sie aber erst Nahrung, sobald Sie auf die Treffen der "Gruppe 47" zu sprechen kommen.

Mit dem Treffen haben Sie übrigens ein willkommenes Thema gefunden, das sich sehr wohl zu Exkursen über die bundesdeutsche Wirklichkeit der sechziger Jahre eignet. Hier gelingen Ihnen immer wieder Stücke von gleicher Güte wie jene im Berlin-Bericht. Hans Werner Richter erfährt hier eine differenzierte Würdigung als miserabler Literat und großartiger Organisator, Autoren wie Erich Fried und Martin Walser eine milde Nachsicht als politisch Verirrte im Zeichen der 68er Revolte. Hier und noch einmal beim Historikerstreit 1986/1987 sind Sie gewillt, etwas von Ihren politischen Ansichten preiszugeben, wenn ich auch meine Zweifel habe, ob Sie Noltes Anliegen wirklich begreifen.

Freilich entschädigen Sie einen für Ihre Nichtbeachtung der lebenden Dichter mit Ihren Ausgezeichneten Ansichten über Literaturkritik. Man merkt schnell, für wie unbedeutend Sie eine Hochschulgermanistik halten, die nicht einmal einen fesselnden Zeitungsaufsatz fabrizieren kann (einmalig in diesem Zusammenhang Ihr Satz, daß mit der Zeit bei der FAZ aus mindestens fünfzehn Germanisten gute bis vorzügliche Kritiker wurden). Sie haben ein gesundes Rezept für einen erfolgreichen Kritiker, indem Sie ihm ständig unter die Nase reiben, daß er in und für eine Zeitung schreibt und nicht für ein Vierteljahresheft für moderne Hermeneutik. Sie halten Klarheit des Ausdrucks, aber mehr noch die des Urteils für unabdingbar, das dem Leser einleuchten muß. Und Sie wissen sehr genau, wie schnell eine politisch motivierte Literatur von gestern zur Makulatur von heute mutiert.

Sie merken schon: Ich will Ihnen sagen, daß Sie ein sehr ungleiches Buch vorgelegt haben: eindringlich dort, wo Sie mich an Ihre Vergangenheit tatsächlich teilhaben lassen, und flach bis enttäuschend, wo Sie diese Teilhabe nur vorgaukeln, damit ja keiner zu tief nachborht. Allerdings so richtig in die Seele gucken kann Ihnen keiner. Sie schildern zwar eine turbulente und stellenweise abenteuerliche Biographie; doch ist es gerade die rasche Folge hochkomplexer Lebensbilder, hinter die Sie zurücktreten. Um es auf den Punkt zu bringen: Man weiß zwar genau, was Sie tun, hat aber keine Ahnung, was Sie denken.

Daß dieses Buch nirgends langweilig wird - selbst dort nicht, wo Sie Gedächtnislücken oder Diplomatie walten lassen-, hat mit Ihrem vorzüglichen Stil zu tun, der so gekonnt spielen kann mit Erwartung und Enttäuschung, brisanter Plauderei und spitzbübischer Pointierung, nüchternem Detail und humorvollem Griff in die Sprachzauberkiste. Beim Umgang mit diesem recht disparaten Sprachmaterial sind Sie ein echter Jongleur, und es macht Spaß zuzusehen, wie Sie daraus einen unbeschwerten, stellenweise schon leichtfüßigen Ton herausholen. Für die Form haben Sie jedenfalls eine Bestnote verdient.

 

Marcel Rech-Ranicki: Mein Leben. DVA, Stuttgart 1999, 566 S., geb., 49,80 Mark


 
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