© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/99 19. November 1999


Mittelstand: Unternehmer kritisieren Industrie- und Handelstag
Anwalt der Großindustrie
Bernd-Thomas Ramb

Uns reicht’s – wir sind auf dem Weg ins Ausland! Wir haben genug von der Stimmung in diesem Lande. Die Menschen hier haben wohl wirklich die Regierung verdient, die sie vorher hatten und jetzt – noch viel schlimmer – gerade gewählt haben." Diese wütend resignierenden Sätze stammen nicht von einer exotischen Wahlverliererpartei, sondern von braven gutbürgerlichen Gewerbetreibenden, sogenannten Mittelständlern. Mittelstand deshalb, weil die dazu zählenden Einzelgewerbetreibenden und Familienunternehmen einst eine breite Masse von Unternehmern bildeten, die unternehmerische Aktivitäten auch außerhalb der multinationalen Großunternehmen wagen zu können glaubte.

Mittlerweile haben aber die meisten Mittelständler den Eindruck gewonnen, einer aussterbenden Rasse anzugehören. Zumindest die Urheber der zornigen Worte wollen aber nicht sang- und klanglos untergehen. Sie wollen ihre Aufklärungsaktion im Internet fortsetzen, "im Interesse der Deutschen, die ähnlich denken wie wir – auch wenn es wohl eine kleine Minderheit geworden ist. Denn die meisten von Ihnen wollen offensichtlich keine Eigenverantwortung für das Individuum, keine persönliche Freiheit und wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit, Sie wollen Eigeninitiative durch Macht und Gesetze ersticken! Sie wollen noch mehr Staat, noch mehr Gesetze, noch mehr Regulierung, noch mehr Steuern und Abgaben und die totale soziale Sicherheit! Und Sie werden damit noch mehr Arbeitslose und noch viel mehr wirtschaftliche Probleme bekommen. Und Sie werden erreichen, daß immer mehr leistungsbereite Menschen ins Ausland gehen und sich sagen: ‘leckt’s mich doch… und macht Euren Scheiß allein!’ Wir kennen schon viele – gerade Informatiker und andere Hochqualifizierte –, die das schon getan haben. Wir jetzt auch. Na denn viel Spaß. Es wird weiter abwärts gehen mit diesem Lande!" ( www.wir-im-mittelstand.de ).

Die harsche Kritik an der mittelstandsfeindlichen Politik der alten und neuen Bundesregierung ist in der Vergangenheit häufig und von vielen Gruppierungen vorgetragen worden, jedoch mit immer weniger Aussicht auf Gehör. Vielleicht hat sich gerade deshalb jetzt auch die Vollversammlung des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT) auf ihrer Tagung im Oktober in Bielefeld um dieses Thema bemüht und vollmundig das Jahr 2000 zum Jahr des Mittelstands erklärt. Hat sich diese Zwangsorganisation, die gerade von Mittelständlern als Hort der Unfreiheit kritisiert wird, in den letzten Jahren doch vornehmlich als Anwalt der Großindustrie hervorgetan und als Verwalter hoheitlicher Aufgaben untertänigst die jeweils herrschende Regierung hofiert. Weniger um durch ihr Wohlverhalten Almosen für die IHK-Mitglieder zu gewinnen, als vielmehr um ihre eigene Existenz nicht zu verlieren. Zudem gerät das anachronistische Zwangsmitgliedschaftssystem der deutschen Kammern zunehmend in den Widerspruch mit der europäischen Entwicklung und an den Rand der EU-Legalität.

Immerhin liefert der DIHT jetzt wenigstens das Lippenbekenntnis, daß der Mittelstand stets der "Motor für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland war" und beispielsweise in den Jahren 1996 bis 1998 mehr Arbeitsplätze geschaffen hat als andere Wirtschaftsbereiche – im Ergebnis über 400.000.

Seine Forderung nach einer "schnellen und spürbaren Senkung der Steuer, Abgaben- und Bürokratielast" und einer "Kultur der Selbständigkeit" in Deutschland kommt jedoch ebenso zu spät, wie sie nicht so recht überzeugend wirkt. Gleiches gilt für die anderen neun Punkte der im Oktober gefaßten Bielefelder Erklärung der Industrie- und Handelskammern (IHKs). Weniges ist neu, und das meiste liegt bereits seit Jahrzehnten im argen. Zu den neuen Schikanen des Mittelstandes, "Scheinselbständigkeit" und 630-Mark-Gesetz, fällt den Verfassern wenig Originelles ein, zumal diese Probleme Klein-, wie Großunternehmen gleichermaßen betreffen. Zweckdienlicher und mutiger wäre es gewesen, wenn die Dachorganisation der IHKs einmal deutlich die Diskriminierung der klein- und mittelständischen Unternehmen gegenüber den Großbetrieben herausgestellt und die Abschaffung dieser Behinderungen gefordert hätte. Doch dazu fehlt es offensichtlich an Mut. Zu groß ist der Einfluß der Großindustrie auf die hauptamtlichen Bürokraten der Industrie- und Handelskammern. Folglich fehlen in der Bielefelder Erklärung einige wichtige Kritikpunkte wie die überhaupt nicht erwähnte Ökosteuer, andere wie die derzeitigen Ansätze zur Unternehmenssteuerreform werden nur halbherzig abgehandelt. Beide Fehlentwicklungen benachteiligen die Kleinbetriebe überproportional.

Auch fehlt wieder einmal die Inangriffnahme des alten Problems der Auslandsflucht von Großbetrieben. Betriebe der höheren Größenordnung können es sich leisten, Spezialabteilungen zu unterhalten, die nichts anderes zu tun haben, als in den bestehenden Rechts- und Verordnungssystemen, insbesondere im internationalen Steuer- und Subventionsdschungel, nach Nischen und Schlupfwinkeln zu suchen. Kaum ein Mittelständler kann sich diesen enormen, aber auch ertragreichen Kostenaufwand leisten. So wundert es nicht, daß inzwischen immer mehr Großbetriebe eigene Rechtsexperten einsetzen, um den Standort des Betriebes nach den Vorgaben des internationalen Systemwettbewerbs optimieren. Maximaler Subventionsgewinn und minimaler Steuerertrag bestimmen heutzutage die Plazierung des Unternehmens, vorzugsweise im Ausland. Alte unternehmerische Sekundärtugenden wie die Sorge für die langjährigen Mitarbeiter, die Pflege des betrieblichen Nachwuchses, die Erhaltung des Familienbetriebs oder Bewahrung der regionalen Beschäftigungsmöglichkeiten fallen aus dem Raster großunternehmerischer Entscheidungskriterien. Der fürsorgende und heimatverbundene Mittelständler wird zum treudoofen Pleitekandidaten deklariert und deklassiert.

Dabei ist aus der Sicht des effizienten Wirtschaftens den Großunternehmen nicht einmal ein Vorwurf zu machen. Sie nutzen eben den Freiraum, den die Politiker ihnen geben. Seit mehreren Jahrzehnten aber neigt die Politik dazu, den Großbetrieben mehr Freiräume zu gewähren als den Mittelständlern, auch dies aus Gründen der – polit-ökonomischen – Effizienz. Nur drei Beispiele verdeutlichen, warum. Zum einen lassen sich zwischen einigen Spitzenpolitikern und einigen Spitzenmanagern der Großindustrie problemloser kurzfristige Vereinbarungen, etwa hinsichtlich der Vergabe von Fördermitteln und Aufträgen, treffen, als mit Tausenden von mittelständischen Unternehmern politische Konzeptionen erarbeiten. Zum zweiten ist das Eintreten von Politikern für Unternehmer vor Ort häufig Anlaß zu unangenehmen gewerkschaftlichen Neidausbrüchen. Die 68er Sprachregelung vom grundsätzlich ausbeuterischen Unternehmerboß läßt sich am Mittelständler plastischer praktizieren als am Vorstandsvorsitzenden eines multinationalen Unternehmens mit gewerkschaftlicher Vertretung im Vorstand, der in höheren Regionen zu schweben scheint. Drittens ist beispielsweise die drohende Entlassung von 4.000 Werftarbeitern nach dem Gesichtspunkt moderner Massenmedienkultur spektakulärer als der tatsächliche Verlust von 400.000 Arbeitsplätzen in mittelständischen Betrieben, die aufgrund der schikanösen Geschäftsbedingungen aufgeben mußten. Für den effizient agierenden Profipolitiker verbleibt somit wenig Anreiz, sich für die Belange einer medienunbeliebten Mittelstandsschicht einzusetzen.

Widerstand gegen diese Entwicklung ist nur noch selten wahrzunehmen, und wenn, wird knallhart dagegen geschossen. "Es ist nicht zu glauben, was wir an Aggression, Haß, Beschimpfungen und anderen Nettigkeiten erfahren mußten, nur weil wir zu einem völlig legitimen, legalen und probaten Protest gegen den Irrsinn dieser Regierung aufgerufen haben. Wir haben die Kreise und die Ruhe zu vieler Leute gestört", vermelden die Internet-Mittelständler vor ihrer Flucht ins Ausland. Immerhin besteht wenigstens in dieser Beziehung jetzt mehr Chancengleichheit zwischen groß und klein.


 
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