© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/99 19. November 1999


China: Die neue Militärdoktrin der Volksbefreiungsarmee
Unsichtbare Kräfte
Michael Wiesberg

Die ungebrochene wirtschaftliche Attraktivität Chinas für westliche Industriestaaten, gerade erneut durch die Reise von Bundeskanzler Gerhard Schröder dokumentiert, steht im augenfälligen Gegensatz zur wachsenden geopolitischen Rivalität zwischen der westlichen Führungsmacht USA und dem Reich der Mitte. Dieser Antagonismus wurde durch den Kosovo-Krieg, der in China nicht nur wegen des Bombardements seiner Botschaft in Belgrad sehr kritische Reaktionen hervorgerufen hat, weiter verschärft. Darüber sollte das Stelldichein westlicher Staatsmänner, die Chinas Mächtigen ihre Aufwartung machen, nicht hinwegtäuschen.

Der Vizepräsident der Akademie der Gesellschaftswissenschaften in Peking, Liu Ji, wird von Philip S. Golub von der Pariser Universität für europäische Studien in diesem Zusammenhang in der deutschen Ausgabe von Le Monde Diplomatique (10/99) wie folgt zitiert: "Das fundamentale strategische Interesse der USA im 21. Jahrhundert ist die Aufrechterhaltung ihrer Position als mächtigstes Land der Welt; das fundamentale strategische Interesse Chinas ist die erfolgreiche Modernisierung des Landes."

Die sich aus dieser Einschätzung für China ergebenden Konsequenzen hat Jin Tao in der Beijing Xiandiai Guoji Guanxi, der monatlichen Zeitschrift des Chinesischen Institutes für internationale Beziehungen, die ihren Schwerpunkt auf den asiatisch-pazifischen Raum gelegt hat, unmißverständlich dargelegt. In der Ausgabe vom 20. Juli dieses Jahres analysiert Jin Tao die neue globale Strategie der USA: der Kosovo-Krieg sei ein wichtiger Schritt hin zu einer umfassenden Ausdehnung der globalen Strategie Washingtons gewesen. Diese hat für Jin Tao im wesentlichen drei Charakeristika: Hauptziel der USA sei die Durchsetzung ihres Führungsanspruches in globalen Angelegenheiten. Um dieses Ziel zu erreichen, verfolgten die USA drei Strategien. Einmal versuchten die USA, ein globales Gleichgewicht der Kräfte durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Weiter versuchten die USA den Einfluß möglicher Konkurrenten, die eine Bedrohung für US-Interessen darstellen könnten, systematisch einzudämmen. Dies gelte insbesondere für Konkurrenten aus dem eurasischen Raum. Schließlich arbeiteten die USA an einem internationalen ökonomischen und politischen Sicherheitssystem – einer "neuen Weltordnung" –, aus dem sie und andere westliche Staaten ihre Vorteile zögen.

Informationstechnologie wichtiger als Bewaffnung

Entscheidend sei, so Jin Tao, daß sich die globalen Intentionen der USA nicht mehr nur auf den militärischen Sektor beschränkten, sondern auf viele andere Bereiche ausgedehnt worden seien. Diese Intentionen dienten einmal der Stärkung der Sicherheit der USA. Weiter strebten die USA aber insbesondere die Förderung ihrer eigenen Wirtschaft und den Export der Demokratie an.

Dadurch daß Washington seinen Einfluß auf die Schlüsselregionen Eurasiens erheblich gesteigert habe, seien, so Jin Tao, Rußland und China mehr und mehr zu möglichen Gegnern der USA geworden. Deshalb unternähmen die USA alles, um die strategischen Möglichkeiten sowohl Rußlands als auch Chinas zu schwächen und deren Einfluß in Eurasien einzudämmen. Dabei sähen die USA die militärische Stärke als entscheidende Säule ihrer globalen Präsenz an. Ziel des amerikanischen Verteidigungsministeriums sei es, so Jin Tao, eine unanfechtbare strategische Überlegenheit der USA aufzubauen. Um dieses Ziel zu erreichen, forcierten die USA die Geschwindigkeit der sich derzeit vollziehenden militärischen Revolution weiter, was sich unter anderem in dem steigenden Verteidigungshaushalt der USA manifestiere.

Daß sich China durch die militärischen Anstrengungen der USA herausgefordert fühlt, versteht sich bei seinen geopolitischen Ambitionen von selbst. Es bedurfte allerdings nicht erst der Aufstockung des amerikanischen Verteidigungshaushaltes, um in China entsprechende Reaktionen hervorzurufen. Entscheidend für eine grundlegende Neuakzentuierung der chinesischen Militärdoktrin war die Operation "Desert Storm" im Jahre 1991, als die USA und ein Teil ihrer westlichen Bündnispartner der Welt im Krieg gegen den Irak zum ersten Mal ihre Version kommender High-Tech-Kriege demonstrierten. Dieser Krieg hat in der Folge auch eine militärische Revolution in China nach sich gezogen.

Die insbesondere von den USA angestoßene militärische Revolution kann als das Ergebnis des sozialen, ökonomischen, wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts im Zuge der "Globalisierung der Märkte" angesehen werden. Von chinesischer Seite liegt – sieht man einmal von einem Eintrag im chinesischen Wörterbuch für militärische Fragen ab – offiziell keine Definition dieser "militärischen Revolution" vor. Dieser Eintrag, den Timothy L. Thomas im Rahmen einer Studie für das amerikanische Amt für ausländische Militärstudien zitiert, definiert denn auch den "sozialen Wandel" als Voraussetzung für die Revolution in militärischen Fragen (RMF). Vorrangig reflektiert der Begriff RMF eine grundlegende Veränderung der Militärtechnologie, der Waffen und der Ausrüstung, der Strukturen militärischer Einheiten sowie des militärischen Denkens und der militärischen Theoriebildung insgesamt.

Im Mittelpunkt der RMF steht aus chinesischer Sicht die Informationstechnologie (IT). Die chinesischen Militäranalytiker Hai Lung und Chang Feng haben die IT als Kern und Grundlage der militärischen Revolution beschrieben, da Information und Wissen an die bis dato praktizierte Sichtweise, militärische Stärke anhand der Zahl bewaffneter Divisionen, Flugzeugträger, Flugzeugen etc. zu messen, getreten sei. Heute müße man, so die beiden Autoren, die "unsichtbaren Kräfte" mit in Betracht ziehen. Diese Kräfte beträfen die Kommunikationsmöglichkeiten, die Möglichkeiten der eingesetzten Computer und die Verläßlichkeit elektronischer Systeme. (Lung/Feng, Chinese Military Studies Information Warfare, Kuang Chiao Ching 280/96)

China müsse es in diesem Prozeß darum gehen, so der Tenor der profiliertesten chinesischen Autoren zum Thema RMF, einen eigenen Weg und eigene Fähigkeiten zu entwickeln. Keinesfalls sollte sich China damit begnügen, westliches Denken und westliche technologische Entwicklungen einfach zu kopieren. So schreibt zum Beispiel Chang Feng, daß jedes Land gemäß seines ökonomischen und wissenschaftlichen Entwicklungsstandes eine eigene Antwort auf die militärische Revolution finden müsse. Es werde deshalb in der Anfangsphase der RMF einen steigenden Trend zur Diversifikation im Hinblick auf die Art und Weise, wie Krieg geführt werden könne, geben. ("Historical Mission of Soldiers straddling 21st Century", Jiefangjun Bao, 2. Januar 1996)

Konsens besteht unter den chinesischen Autoren darüber, daß sich das chinesische Militär die Vorteile, die das Informationszeitalter bietet, zunutze machen müsse. Militärische Kampfstärke wird vor diesem Hintergrund in Zukunft auf der Zusammenführung von Personal, Waffen und Informationssystemen beruhen. Daß das militärische Personal nicht mehr nur aus Soldaten bestehen muß, läßt Wei Jincheng durchblicken: "Diejenigen, die am Krieg der Informationssysteme teilnehmen werden, werden nicht mehr nur Soldaten sein. Jeder, der sich am Computer auskennt, könnte zum ‘Krieger’ im Netzwerk werden. Spezialisten, die nicht zum Regierungsapparat gehören, werden an Entscheidungsfindungen partizipieren. Eine mögliche militärische Mobilmachung wird nicht mehr nur junge Männer treffen. In Zukunft werden die Bereiche der Informationstechnologie die ersten sein, die in einen Krieg eintreten." (New Form of People’s War, Jiefangjun Bao, 25. Juni 1996)

Lähmung des Angreifers durch Einsatz von Viren

Wie die Kriegführung mittels Informationssystemen aussehen könnte, darüber hat sich in einer Reihe von Artikeln, insbesondere in der Militärzeitschrift Jiefangjun Bao, Shen Weiguang Gedanken gemacht. Dieser definitierte eine derartige Kriegführung als Angriff auf die Aufklärungs- und Informationssysteme des Gegners. Dieser Angriff müsse in der Absicht geschehen, die Entscheidungen der feindlichen Politiker entweder zu beeinflussen oder vollkommen zu verändern. Der Hauptzweck eines derartigen Angriffs müsse aber darin bestehen, die gegnerischen Aufklärungs- und Informationssysteme zu stören und Kontrolle über dessen Handlungen zu gewinnen. Weiguang ist der Auffassung, daß der Krieg der Informationssysteme auch einen militärischen Paradigmenwechsel nach sich gezogen habe. Nicht mehr die Luftüberlegenheit genieße heute die höchste Bedeutung, sondern die Beherrschung der Informationssysteme.

Wie diese Überlegenheit konkret hergestellt werden kann, darüber hat sich zum Beispiel Guo Anhua von der Militärakademie der Volksbefreiungsarmee Gedanken gemacht. Seiner Auffassung nach hängt die erfolgreiche Umsetzung der RMF weniger von der Implementierung der entsprechenden Technologie ab, als vielmehr von einem entsprechenden operativen Denken und einem möglichst effektiven Einsatz dieser Technologie. (T.L. Thomas, "Behind the great Firewall", Foreign Military Studies Office, 11/98)

Dieser Einsatz müßte aus der Sicht von Autoren wie Wang Xusheng, Su Jinhai und Zhang Hong von der Akademie für Elektrotechnologie der Volksbefreiungsarmee wie folgt aussehen: Vorrangiges Ziel müßte der Angriff auf die Kommando- und Kontrollsysteme, den "elektronischen Solarplexus" des Feindes, sein. Dieser Angriff müßte mit der größten denkbaren Geschwindigkeit erfolgen, damit der Feind den Ort des jeweils aktuellen Schlachtfeldes nicht lokalisieren könne. Die elektronischen "Augen und Ohren" des Feindes müßten vernichtet, die eigenen hingegen geschützt werden. (Wang Xusheng, Su Jinhai und Zhang Hong in: Beijing Jisuanji Shijie, 30/97)

In diesem Zusammenhang spielt der Einsatz von Computerviren eine zentrale Rolle. Computerviren sind nach der Definition von Xu Runjun und Chen Xinzhong Programme, die Computersysteme bei der Ausführung bestimmter Anwendungen zerstören können ("Computer Virus Weapons", Guofang, 15. Februar 1997). Computerviren könnten weiter ein Computernetzwerk paralysieren, ohne daß dieser Virus selber erkennbar werde. Dabei wird in Rechnung gestellt, daß auch China Zielobjekt einer derartigen Attacke werden könnte.

Vormachtstellung der USA soll eingeschränkt werden

Die Autoren Xu Runjun und Chen Xinzhong empfehlen eine nationale Sicherheitsstrategie für China, die eine ganze Reihe von Maßnahmen umfaßt. China müsse Sicherheitsstandards und -normen für seine Informationsinfrastruktur definieren, die Forschung für Schutzmaßnahmen seiner Informationstechnologie fördern und Technologien entwickeln, die der Einschleusung von Computerviren in chinesische Netzwerken wirksam vorbeugt. Darüber hinaus sollte China eigene Computersysteme entwickeln, um den technologischen Standard in dem Land zu heben.

Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: der Krieg der Informationssysteme wird in China zwar als wesentliches Kriterium künftiger Kriege gesehen. Nach Zhao Shuanlong ("The initial Battle is the decisive Battle", Jiefangjun Bao, 18. August 1998) werden aber auch die politische, die finanzielle und ökonomische sowie die psychologische Kriegführung nicht zu verachtende Rollen spielen. Weiter müsse auch der Kampf um die Kontrolle des Weltraums und das Mittel der regionalen Blockade beachtet werden. In einem allerdings ist sich Zhao Shuanlong sicher: künftige Kriege werden nicht mehr durch einen "ersten Schuß" eröffnet, sondern mittels einer Computertastatur.

Die intensive Diskussion um die Folgen der gegenwärtigen militärischen Revolution zeigt eines: China wird sich kaum mit jener Rolle zufriedengeben, die die USA dem Reich der Mitte gerne zudiktieren würde.


 
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