© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/99 19. November 1999


Kinderliteratur: Zum 70. Geburtstag von Michael Ende
Reisen nach Phantásienland
Gesa Steeger

Mit dem Phänomen Ende befasse er sich nicht, soll unser Literaturpapst einmal gesagt haben und bestätigte Michael Ende: "Man darf von jeder Tür aus in den literarischen Salon treten, (…) nur nicht aus der Kinderzimmertür." Dabei wollte Ende Theaterstücke im Stile von Cocteau oder Anouilh schreiben, so jedenfalls begründete der am 12. November 1929 geborene Ende 1949 seine Bewerbung an die Münchner Schauspielschule. Er wurde genommen, machte aber seinen Lehrern nicht viel Freude. Das anschließende und einzige Engagement Endes am holsteinische Landestheater war ein Reinfall: Den jugendlichen Liebhaber durfte er überall mimen, nur nicht auf der Bühne, und sein erstes dort verfaßtes Stück "Sultan hoch zwei" wurde nie gedruckt.

Nach dieser Episode schrieb Ende für Münchner Kabaretts und wurde Filmkritiker beim Bayerischen Rundfunk. Das Kinderbuchdebut war ein Zufall: Mitte der Fünfziger bat ihn ein befreundeter Illustrator um einen Text für ein Bilderbuch. Ende begann: "Das Land, in dem Lukas der Lokomotivführer wohnte, war nur sehr klein" und reihte absichtslos Abenteuer an Abenteuer. So entstand die Geschichte von "Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer". Allein das Duodez-Königreich Lummerland mit König Alfons dem Viertelvorzwölften und seinen drei Untertanen ist Karikatur einer Märchenmonarchie. Die Ordnung wird gestört, als die Lummerländer das Findelkind Jim Knopf aufnehmen: Es droht Überbevölkerung! Was hier noch als Mischung aus "Leonce und Lena" und Moseslegende daherkommt, entwickelt sich mit der Emigration der Helden zu einer Reise ohne literarische Vorbilder. Der Scheinriese Turtur und der Halbdrache Nepomuk zeugen von der Originalität Endes, und die Lok Emma bricht jedes Naturgesetz: sie kann schwimmen, tauchen und fliegen. Alles Absurde wird durch Lukas erklärt und in ein logisches Weltbild zurückgeführt. Wie viele Eltern sind schon daran gescheitert ihren Kindern zu erklären, daß es keine Perpetomobile gibt, egal wie oft Lukas sie erfindet!

"Jim Kopf" wurde, wie es sich für angehende Welterfolge gehört, mehrfach abgelehnt. Bis Lotte Weitbrecht vom Thienemann-Verlag zuschlug. Sie hatte schon bei Preußlers "Kleinem Wassermann" den richtigen Riecher bewiesen und sicherte sich mit Ende den anderen herausragenden deutschen Kinderbuchautor. "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" erschien 1960, erhielt 1961 den Deutschen Jugendbuchpreis und wurde mit dem Folgeband "Jim Knopf und die wilde 13" (1962) von der Augsburger Puppenkiste kongenial verfilmt. Mittlerweile wirbt die Deutsche Bundesbahn mit "Zugreisen zu Jim-Knopf-Preisen", und manch kritischer Bahn-Report wird mit der Titelmelodie unterlegt. Der mit dem Erfolg einhergehende Geldsegen rettete Ende vor der Wohnungspfändung. Allerdings hatte er kein Händchen für pekuniäre Dinge, zu Beginn der neunziger Jahre mußte er feststellen, daß ihn sein Steuerberater um alle Einkünfte betrogen hatte.

Bis zu seinem nächsten Erfolg vergingen zwölf Jahre. Dazwischen steht die Eheschließung mit der Schauspielerin Ingeborg Hoffmann, der Umzug nach Italien, die Bekanntschaft mit dem Komponisten Walter Hiller, der einen Großteil seiner Werke vertonte, der Gedichtband "Das Schnurpsenbuch" (1969) und das Bilderbuch mit Noten "Tranquilla Trampeltreu" (1972).

1972 erschien "Momo oder die seltsame Geschichte von den Zeitdieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte". Ende übernimmt Motive aus der surrealistischen Bilderwelt seines Vaters, des Malers Edgar Ende. Das von beiden Eltern ererbte gestalterische Talent setzt er in die eigenhändige Illustration des Werkes um. "Momo" entsprach nicht den Forderungen des Kinderliteraturbetriebs, es verzichtete auf gesellschaftliche Realitäten und schien sich vor der politischen Erziehung der Leser zu drücken. Trotzdem oder deswegen wurde die gegen die Nutzbarkeit der Zeit rebellierende Momo zur alternativen Kultfigur.

Mitte der siebziger Jahre machte Ende seinem Lektor Hansjörg Weitbrecht den Vorschlag, etwas über einen Jungen zu schreiben, der sich in einem Buch verliert. Dann jedoch verirrte sich Ende persönlich in seinem Phantásien, denn ein Phantásienreisender war er schon in seiner Kindheit gewesen, auf der Flucht vor den streitenden Eltern, vielgehaßten Lehrern, der ungeliebten Hiltlerjugend und den Alpträumen, die er von einen Hamburgbesuch mitbrachte, wo er Zeuge der Aktion Gomorrha geworden war. Wie sein Held Bastian Balthasar Bux verheddert sich Ende in der Perlenschnur der Geschichten, legt immer neue Spuren und muß am Schluß bekennen: "Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden."

Die unendliche Geschichte" wurde im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten als Gesamtkunstwerk gestaltet. Bei seinem Erscheinen 1979 läutete es einen Paradigmenwechsel ein: der Rückzug in die Innerlichkeit hatte begonnen. Neben der Akzentuierung auf das Private wurde der Motivmix aus antiker Mythologie, biblischer Geschichte, Grimmschen Märchen und Sagen als postmodernes Werk gefeiert. "Die unendliche Geschichte" fand auf diese Weise, trotz des Makels, ein Jugendbuch zu sein, den Weg in germanistische Seminare.

Der "Unendlichen Geschichte" folgten kleinere Produktionen, unter anderem "Das Traumfresserchen" (1978) und "Der Lindwurm und der Schmetterling" (1981), beide vertont von Walter Hiller, und das für Schulaufführungen so beliebte, aber moralisch durchsichtige "Gauklermärchen" (1982). Hansjörg Weitbrecht schuf mit der Edition Weitbrecht im Hause Thienemann ein Forum für Ende, nicht nur kindgemäße Bücher zu veröffentlichen. So äußerte sich Ende über seine schriftstellerischen Absichten in "Phantasie/Kultur/Politik" (1982), "Kunst und Politik" (1989) und "Michael Endes Zettelkasten" (1993).

Ein wenig beachtetes Kunstwerk aus Endes Feder ist der "Spiegel im Spiegel" (1983). Ende begibt sich in die surreale Bilderwelt seines Vaters Edgar Ende und geht in dessen Bildern spazieren. Wie in "Jim Knopf" entpuppt sich Ende als Meister des absichtslosen Erzählens. In einem Labyrinth aus lyrischen Bildern sind die Geschichten lose miteinander verwoben und durch graphische Werke Edgar Endes bereichert.

Ende starb am 28. August 1995 in München. Seinen großen Traum hatte er aus Italien mitgebracht: daß die Geschichtenerzähler von Palermo dereinst seine Geschichten erzählten.


 
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