© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/99 26. November 1999


Welthandel: Nächste Woche tagt in Seattle der Ministerrat der Welthandelsorganisation
Eine neue Liberalisierungsrunde
Theo Mittrup

Nach 13 Jahren zäher Verhandlungen haben die Unterhändler der USA und Chinas am 15. November 1999 ein Abkommen unterzeichnet, das die weitreichende Öffnung des chinesichen Marktes vorsieht. China hat damit die höchste Hürde auf dem Weg in die Welthandelsorganisation (WTO) überwunden. Die South China Morning Post bewertete das Abkommen und die baldige WTO-Mitgliedschaft als das "wichtigste ökonomische Ereignis seit Dezember 1979", als Deng Xiaoping die Öffnung des Landes einleitete. Tatsächlich steht China vor einem großen Strukturwandel. Wirtschaftsexperten schätzen, daß in der chinesischen Wirtschaft in den nächsten Jahren zehn Millionen Arbeitsplätze verschwinden werden, vor allem in den Autofabriken und auf den Landwirtschaft. Auf der anderen Seite werden neue Arbeitsplätze entstehen – durch zusätzliche Auslandsinvestitionen im Land und durch den Abbau von Zollschranken für chinesische Exportprodukte.

Auch für die WTO selbst ist der Beitritt Chinas von größter Bedeutung, denn erst mit der Aufnahme der künftigen Handelsgroßmacht – für viele Branchen wird der Weltmarkt in wenigen Jahren um über eine Milliarde Menschen größer – wird die Welthandelsorganisaton wirklich zu einer solchen.

Die WTO ging 1995 aus dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) hervor. Dieses wiederum besteht seit 1948 und war ursprünglich ein Abkommen zur internationalen Regelung der nationalen Handelspolitiken, zum Abbau von Einfuhrzöllen und zur Liberalisierung des Weltmarktes. In bisher acht sich über mehrere Jahre erstreckenden Verhandlungsrunden ist das GATT immer weiter ausgebaut worden. Die letzte sogenannte Uruguay-Runde begann 1986 ebenda und endete 1993 mit der Abschlußerklärung von Marrakesch. Ein Ergebnis dieser Runde ist die Gründung der WTO. Sie dient nun als Forum für Verhandlungen über den weiteren Abbau von Handelsschranken und überwacht die Einhaltung der abgeschlossenen Verträge. Als einzige internationale Organisation kann sie Sanktionen zulassen, wenn Mitgliedsländer sich nicht an die getroffenen Vereinbarungen halten.

Höchstes Organ der WTO ist die Ministerkonferenz, die aus den Regierungschefs der derzeit 134 Mitgliedsstaaten besteht. Sie tagt alle zwei Jahre, zuletzt 1997 in Singapur. Vom 30. November bis 3. Dezember 1999 treffen nun die Regierunschefs in Seattle erneut zusammen, um eine neue Verhandlungsrunde zu beschließen. Eine neue umfassende Welthandelsrunde ist vor allem das Ziel der EU. Sie will ein neues großes Verhandlungspaket schnüren, in dem dann auch neue Themen wie ein multilateraler Investitionsschutz und eine multilaterale Rahmenregelung für die Wettbewerbspolitik aufgenommen werden sollen. Dies stößt vor allem bei den USA und den Entwicklungsländern auf Widerstand. Eingeweihten zufolge paßt dies durchaus ins Kalkül der EU, denn sie braucht Verhandlungsspielraum in anderen Bereichen, um ihr geschütztes Landwirtschaftsmodell auch zukünftig gegenüber den Handelspartnern verteidigen zu können.

Der Vorstandsvorsitzende der Preussag AG, Michael Frenzel, warnte daher in einem Interview in der Wirtschaftswoche, daß "die gewerbliche Wirtschaft nicht zur Geisel der Bauern" werden dürfe. Man dürfe nicht zulassen, daß Partikularinteressen weiteren Singularfortschritt verhindern. So gebe es auch nach bisher acht erfolgreichen Welthandelsrunden immer noch großen Handlungsbedarf in bezug auf den Abbau von Zöllen. Zukunftsmärkte wie Argentinien, Mexiko oder Indien hätten immer noch Durchschnittszölle von bis zu 40 Prozent, und selbst bei den Industrieländern erreichten die Spitzenzölle bei einigen Produkten noch über 20 Prozent.

Die EU hingegen betont in ihrem in Brüssel beschlossenen Agrarpositionspapier die Bedeutung der "multifunktionalen Landwirtschaft" Europas für die ländliche Entwicklung, die Umwelt sowie für den Landschafts-, Tier- und Verbraucherschutz. Ein wichtiger Eckpunkt der EU-Verhandlungsposition ist daher eine sogenannte Friedensklausel, die bestimmte Fragen wie zum Beispiel die Direktbeihilfen für Bauern "außer Streit" stellt. Dazu betont die EU das Vorsorgeprinzip zum Schutz der Konsumenten. Hier argumentiert die EU, daß die WTO nicht dazu benutzt werden dürfe, Agrarprodukte auf den Markt zu drücken – wie im Fall des Fleisches hormonbehandelter Rinder –, an deren Sicherheit berechtigte Zweifel bestehen.

Dies führt zu einer Grundsatzfrage: Wie sind "Handelshemmnisse", deren radikaler Abbau zu den Grundregeln des Freihandels zählt, zu definieren? Die USA beispielsweise sehen im Verbot der Einfuhr von hormonbehandeltem Rindfleisch aus Gründen des Verbraucherschutzes lediglich einen Vorwand. In Wahrheit gehe es der EU nur darum, die europäischen Bauern vor der Konkurrenz amerikanischer Landwirte zu schützen. In ähnlicher Weise begründen die USA ihre Forderungen zum Abbau von Reglementierungen, die den Handel mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln und deren Kennzeichnung betreffen.

Auch den Bereich der Kultur möchten die Europäer als Ausnahmebereich verstanden wissen. Hier besteht die EU darauf, die audiovisuellen Medien schützen und fördern zu dürfen. Hierzu gehören zum Beispiel Gebühren für öffentlich-rechtliche Radio- und Fernsehsender, sowie eine Quote von 51 Prozent für europäische Produktionen im Fernsehen. Insbesondere Frankreich drängt ferner auf eine Begrenzung der Zahl US-amerikanischer Filmproduktionen auf europäischen Kinoleinwänden.

Grundsätzliche Kritik an der WTO und speziell einer neuen Liberalisierungsrunde üben viele Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) wie etwa Greenpeace. Sie fordern eine Reduzierung des Tempos der Deregulierungen, welches insbesondere Entwicklungsländer regelrecht "überrolle". Viele Entwicklungsländer haben inzwischen offiziell erklärt, daß sie große Teile der Ergebnisse der Uruguay-Runde weder in nationales Recht überführt noch in ihrer ganzen Reichweite verstanden haben. Wortführer wie Indien und Pakistan kritisieren, daß die während der Uruguay-Runde eingegangenen Verpflichtungen, wie etwa beim Zollabbau und den Urheberrechten, sie zu überfordern drohen. Andererseits würden die Industrieländer ihre Märkte nur sehr zögerlich öffnen.

Der WTO-Generaldirektor Mike Moore und der Weltbank-Chefökonom Joseph Stiglitz fordern daher statt einer weiteren, im Interesse der Industrieländer liegenden Liberalisierungsrunde eine "Entwicklungsrunde", die die Interessen der armen Länder stärker berücksichtigt. Angesichts der Machtverhältnisse und der Eigeninteressen der Industrieländer erscheint dies jedoch als nicht mehr als ein frommer Wunsch.


 
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