© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/99 26. November 1999


Kino I: "Blair Witch Project" von Daniel Myrick und Eduardo Sanchez
Gefühl der Beklemmung
Claus-M. Wolfschlag

Im Herbst 1994 begeben sich die drei Filmstudenten Heather Donahue, Joshua Leonard und Michael Williams in die Wildnis des Black Hills Forest in Maryland. Mit zwei Kameras wollen sie dem regionalen Hexenmythos der "Blair Witch" auf den Grund gehen. Seit dem 18. Jahrhundert waren in der Gegend um die Kleinstadt Burkittsville, vormals Blair, Kinder verschleppt und zum Teil grausam verstümmelt worden. Die Taten werden einer mysteriösen alten Hexe zugesprochen, die seit 200 Jahren in den nahen Wäldern hausen soll. Auf ihrer Suche nach der legendären "Blair Witch" interviewen die Filmstudenten einige Anwohner des Ortes, machen sich dann auf Wanderschaft in den nahe gelegenen Wald. Nie sollen sie danach wieder gesehen werden.

Ein Jahr später findet man, vergraben unter den Grundmauern einer 100 Jahre alten, verlassenen Waldhütte, das Filmmaterial, auf dem die letzten Tage der drei jungen Menschen festgehalten sind. Sie zeigen eine quälende fünftägige Wanderung durch einen fast undurchdringlich scheinenden Wald, dessen Ausgang nicht mehr zu finden ist, sowie eine Reihe unerklärlicher, grauenerregender Vorhänge bis zum Verschwinden der Filmemacher.

Die Regisseure haben diese fiktive Geschichte wirkungsvoll als Dokumentarfilm inszeniert, der Authentizität suggeriert und dem Grauen dadurch einen realistischen Charakter verleiht. "Blair Witch Project" galt auf dem diesjährigen Sundance Film Festival und in Cannes als Geheimtip. Schon Monate vor der Präsentation eilte dem Streifen im Internet der Ruf einer brillanten Terror-Studie voraus, was ihm Kult-Status verlieh.

Der interessanteste Aspekt des Films ist dessen Vermarktung. "Blair Witch Project" wurde der erste große Filmerfolg, der fast ausschließlich auf einer Internet-Kampagne beruht. Die Filmemacher betätigten sich als geschickte Geschichtenerzähler, indem sie die Mythologie um eine Hexe von Blair schufen. Zudem verbreiteten sie getürkte Stellungnahmen von den angeblichen Eltern der Studenten oder Zeugen der seltsamen Geschehnisse.

Von dem Erfolg unter den Internet-Nutzern war man selber überrascht: "Es ist geradezu erstaunlich, wie schnell sich etwas im Internet herumspricht. Wenn du eine Idee hast, dann wissen das ganz schnell ganz viele Leute." Der Erfolg scheint dem Vorgehen recht zu geben. Standen den Jungfilmern für die Fertigstellung weniger als 50.000 Dollar zur Verfügung, so hat "Blair Witch Project" allein in den USA bereits mehr als 150 Millionen Dollar eingespielt.

Die Einschätzung als Kultfilm ist natürlich arg gewöhnungsbedürftig. Ähnlich den skandinavischen "Dogma"-Filmen bildet "Blair Witch Project" einen Angriff auf die Sehnerven der Betrachter. Gezeigt werden nur die angeblich authentischen Aufnahmen der Protagonisten. 16-mm-Aufnahmen wechseln mit High-8-Video-Szenen und hinterlassen auf der Netzhaut den ständigen Eindruck von Wackelbildern. Kaum eine ruhige Minute findet man, ohne daß die Bilder von wirren Drehungen oder Farbwechseln durchzogen sind. Und so schließt man bisweilen kurz die Augen, weniger wegen des schrecklichen Geschehens als aus optischer Überanstrengung.

Beeindruckend präsentiert sich dagegen die schauspielerische Leistung, die es vermag, die bedrückende Stimmung unter den Akteuren in der Einsamkeit des Waldes authentisch einzufangen. Der wachsende Konflikt zwischen den Beteiligten, erschwert noch durch den Machtkampf zwischen einer jungen Frau und zwei Männern, korrespondiert mit dem Gefühl einer unheimlichen Bedrohung von außen im Dunkel der monoton wirkenden Natur. Mit jedem frustierenden Tag und jeder angsterfüllten Nacht wächst der Eindruck der Gefahr, der zu entkommen in dem Labyrinth aus Gestrüpp und Blättern aber nicht möglich scheint. Die direkt vermittelte Angst, die Gewißheit des eigenen Endes in einer ausweglosen Situation, die als unsichtbarer Alptraum auftritt, hinterläßt bei den Betrachtern ein tiefes Gefühl der Beklemmung.

"Blair Witch Project" präsentiert keinen offensichtlichen Horror-Splatter, der Horror vollzieht sich als Einbruch unerklärlicher Phänomene in die heile Welt dreier amerikanischer Studenten des ausgehenden 20. Jahrhunderts. In der Zeit von Automobil und Videokamera, in der jeder Winkel erforscht scheint und selbst die Dokumentation historischer Schrecken mehr den Charakter des Kinderspiels aufweist, werden die Unvorbereiteten mit der Realität einer Gewalt konfrontiert, die man kaum zu sehen bekommt, deren Präsenz aber überall zu spüren ist.

"Haben Sie eine Vorstellung davon, wie erschreckend es ist, mitten in der Nacht aufzuwachen und vor Ihrem Zelt kleine Kinder lachen zu hören?" fragt Regisseur Daniel Myrick rhetorisch. Und wahrlich macht den Reiz des Films die Erkenntnis aus, daß selbst in unserer zivilisierten Welt das Mysterium seine Zufluchtsorte bewahrt hat, deren Existenz wir nur erahnen können.


 
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