© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/99 03. Dezember 1999


Stasi im Westen: Zehntausende Westbürger arbeiteten als Informelle Mitarbeiter für die DDR-Staatssicherheit
Einem "besseren Deutschland" verpflichtet
Elvira Seidel

Anfang nächsten Jahres wollen die USA die Stasi-Akten der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Markus Wolf auf über hundert CD-Rom schrittweise an Deutschland zurückgeben. Durch Auszüge aus diesen Akten wurde vor einigen Jahren der Top-Spion Rainer Rupp ("Topas") enttarnt, den die Stasi im Nato-Hauptquartier plaziert hatte. Im Durcheinander der "Wende"-Zeit 1990 waren sie auf wundersame Weise in die USA gelangt. Diese haben die Gelegenheit genutzt, eine Reihe von Namen zu schwärzen, woraus man schließen kann, daß etliche Stasi-Spitzel ihre Tätigkeit unter CIA-Protektorat fortsetzen werden.

Dennoch stellen die Akten eine ergiebige Quelle zur Aufarbeitung deutscher Zeitgeschichte dar. Die Freude darüber aber ist bei den Hohepriestern der politischen und historischen Moral merkwürdig gedämpft. Die Forderung nach schonungsloser Offenlegung haben sie bisher nicht erhoben. Dafür gibt es Gründe!

Der Historiker Hubertus Knabe, Mitarbeiter der Gauck-Behörde, hat mit seinem Buch über die "Westarbeit des MfS" einen Vorgeschmack darauf gegeben, was ihnen ins Haus stehen könnte. Rund 20.000 bis 30.000 Bundesbürger, schätzt Knabe, wirkten als Informelle Stasi-Mitarbeiter ("IMs"). Und sie waren nicht um irgendwelcher Banalitäten willen angeworben worden. Sie sollten Einfluß nehmen auf die Politik und Meinungsbildung in der Bundesrepublik.

Diesen Auftrag haben sie glänzend erfüllt. Viele der gesellschaftlichen Debatten und Auseinandersetzungen, die für die Nach-68er-BRD bis heute mythenbildend und identitätsstiftend sind, waren wesentlich von den strategischen Überlegungen der Staatssicherheit inspiriert.

Schon seit längerem ist bekannt, daß die antisemitischen Schmierereien und Drohbriefe, die zeitgleich zum Eichmann-Prozeß in Westdeutschland auftauchten, in den Schreibstuben der Stasi verfaßt wurden – und die Briefe verängstigter Juden gleich dazu.

Auch die Kampagne gegen den Bundespräsidenten Heinrich Lübke als "KZ-Baumeister" beruhte auf Material, das von der Stasi manipuliert worden war.

Antifaschismus wurde zum Mediendiktat hochstilisiert

Der Einwand, daß Geheimdienste zum Schnüffeln und Desinformieren nun einmal da sind, daß SED und Stasi ihr Spiel verloren haben und die BRD nicht ernsthaft beschädigen konnten, verfehlt den Kern dieses deutsch-deutschen Kapitels. Mit Lübke, um bei diesem Beispiel zu bleiben, wurde nicht einfach ein – ablösungsreifer – Bundespräsident demontiert. Mit ihr nahm auch die denunziatorische Atmosphäre, die bis heute wie eine Käseglocke über dem Land liegt, ihren Anfang.

Ansatzpunkt war die Erschütterung der deutschen Gesellschaft durch das NS-Regime. Das schlechte Gewissen über tatsächliche oder vermeintliche braune Verstrickungen führte zur Wehrlosigkeit gegenüber einem moralisch aufgeladenen, antifaschistischen Furor, der allmählich eine mediale Hegemonie errang. Hinzu kam die naive Unkenntnis dieser "antifaschistischen" Strategie und Vernetzungen. Die Grundlage für rationale politische Diskurse war damit zerstört.

Im Dezember 1961 hatte Stasi-Minister Erich Mielke die Richtung vorgegeben: "Wir müssen die Arbeit auch in der Beziehung verändern, daß wir unsere Probleme an die Menschen in Westdeutschland herantragen, daß wir die positiven Kräfte stärken und die Ultras und ihre Lakaien zersetzen. Wir müssen eine scharfe Auseinandersetzung zwischen den verhandlungsbereiten Kräften und den Kräften, die an der alten Position festhalten, herbeiführen." Im Klartext: "Gestärkt" werden sollte, wer tendenziell bereit war, dem Regime eine politische und moralische Legitimität und Gleichberechtigung zuzugestehen. Die anderen sollten "zersetzt" werden.

Wie das im einzelnen aussehen konnte, hat Jürgen Fuchs in seinem 1998 im Rowohlt Verlag erschienen Dokumentar-Roman "Magdalena" ausführlich dargelegt.

Die Stasi kümmerte sich um Medien, Hochschulen, Kulturinstitutionen, kirchliche Stiftungen, Parteien, um die Schaltstellen der Ideologie- und Meinungsproduktion also. Willige Helfer rekrutierte sie vornehmlich unter Journalisten, Jusos, SPD- und AStA-Mitgliedern, Maoisten, Politologen, "Friedensforschern", "Rechtsextremismus-Experten", linksbürgerlichen Politikern.

Erfolge zeigten sich schon in den siebziger Jahren: Nun gehörte es zum guten Ton, die DDR als "zweiten deutschen Staat" statt als "Diktatur" zu bezeichnen. Und zwar nicht nur auf offizieller Ebene, wo das, um der Menschen willen, opportun sein mochte. Auch die DDR-Forschung wurde zunehmend als "wertfreie" Sozialgeschichte betrieben, der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie eingeebnet. Wer diese Veränderung des Meinungsklimas als Folge einer altlinken Zersetzungsstrategie bezeichnete, wurde als "kalter Krieger" oder einfach als Narr verlacht, bearbeitet, isoliert, manchmal eben auch "zersetzt". Denn er war der Wahrheit gefährlich nahegekommen.

Gleich nach dem Krieg nahmen in der Illegalität gestählte Altkommunisten und sowjetische Geheimdienststellen ihre Tätigkeiten in der SBZ auf, knüpften alte Beziehungen in die Westzonen neu und trugen systematisch Dokumente und Justizakten aus der NS-Zeit zur späteren Verwendung zusammen.

Material und Strukturen ermöglichten es, langfristig eine Freund-Feind-Politik in Gang zu setzen, wie sie sich Carl Schmitt nicht erfolgreicher hätte ausdenken können. Sie wäre nicht so erfolgreich gewesen ohne die innere Bereitschaft sogenannter fortschrittlicher Kräfte des Westens. Halb zog es sie, halb sanken sie hin! Rainer Rupp wurde am Rande einer Studentendemonstration gegen die "Notstandsgesetze" bei einem Teller Gulaschsuppe angeworben.

Friedensinitiativen dienten zur System-Destabilisierung

Henri Nannen brachte via Stern die Lübke-Fälschungen unter die Leute. In alten Fernsehaufnahmen sieht man Nannen in der Kämpferpose für Recht und Wahrheit. Ein manipulierter Manipulierer – bestenfalls! –, der (und auch das ist symptomatisch) gleichzeitig die eigene, wenig ruhmvolle Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 abarbeitete. Noch immer ist dieses facettenreiche wie heikle Kapitel nicht ins allgemeine Bewußtsein gehoben, geschweige denn aufgearbeitet und überwunden. Im Gegenteil. Ohne diese die effektive politische, geistige und moralische Unterwanderung der BRD durch die Stasi ist der Erfolg, den Reemtsma, Heer und Konsorten mit ihrer "Wehrmachtsausstellung" über Jahre erzielten, gar nicht zu erklären.

Bernd Michels, langjähriger Sprecher der schleswig-holsteinischen SPD, wurde wegen Stasi-Kontakten 1996 zu 18 Monaten Haft – auf Bewährung – verurteilt. Von Selbstkritik der Nord-SPD ist indes nichts bekannt. Oder Till Meyer, Ex-Terrorist des "2. Juni", der sich bei der taz und im linksalternativen Milieu West-Berlins tummelte. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt – "mangels Aktenfunden".

Am 28. Oktober 1999 schwärmte der SPD-Politiker Erhard Eppler im Deutschlandfunk von der Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre. Er verschwieg, daß die seinerzeit sehr aktive Aktion "Generäle für den Frieden" aus Ost-Berlin 100.000 Mark erhalten hatte oder der vielzitierte Friedensforscher Gerhard Kade über einschlägige Kontakte verfügte.

Berlins früherer FDP-Chef William Borm, Gründer von "Republikanischen Clubs" in den sechziger Jahren, die er – mit Stasi-Geldern – auch finanzierte, und unter den Friedensmarschierern einer der aktivsten, stand ebenfalls im Stasi-Sold. Derlei geistige und politische Kollaboration mit dem SED-Regime wurde und wird umgelogen zum "kritischen Diskurs" oder zur "antifaschistischen Aufarbeitung deutscher Geschichte" und was es an Wortgeklingel sonst noch gibt.

Die Stasi wurde nervös, als die Rasterfahndung im Zuge der Terroristenbekämpfung eingeführt wurde, weil sie geeignet war, auch ihre Spitzel herauszufiltern. Das Geschrei, das damals in Ost und West über die Einschränkung demokratischer Grundrechte veranstaltet wurde, wird auch im Lichte dieser Erkenntnisse zu bewerten sein.

In den achtziger Jahre stellte der Ausreisedruck mehr als alles andere die Existenz des DDR-Regimes in Frage. Seine Bekämpfung hatte für die Stasi absolute Priorität. Im Sommer 1989, als die Flüchtlingswelle auf dem Höhepunkt war, forderte die Alternative Liste von Berlin (West), DDR-Flüchtlinge wie Asylanten zu behandeln, also abzuschrecken. Objektiv besorgte die Alternative Liste damit die Geschäfte Erich Mielkes! Die Bereitwilligkeit, mit der diese Meinungsmacher den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie vertuschten, und ihr Unwille, sich nachträglich ihrem Versagen zu stellen, läßt Zweifel am Zustand einer Gesellschaft aufkommen, in der diese Kräfte nach wie vor ein faktisches Definitionsmonopol darüber ausüben können, was innerhalb des demokratischen Spektrums liegt und was nicht.

Auch das politische und intellektuelle Elend der "demokratischen Rechten", die da warnte, man könne doch nicht immer bloß mit Argusaugen nach "rechts" schauen und für "linken" Extremismus einfach blind sein, ist jetzt in Gänze offenbar. Natürlich kann man! Wenn man nämlich Geld, Zielvorgaben und sein politisch-ideologisches Rüstzeug aus eben dieser Ecke erhält und die DDR als das irgendwie "bessere, moralischere Deutschland" betrachtete. Es wird künftig zu fragen sein, in welchem Maße und wie nachhaltig das ideologische Stasi-Gift auch zentrale bundesdeutsche Institutionen infiziert und damit eine Verschiebung des gesamten politischen Koordinatensystems nach "links" mitbewirkt hat.

Es soll überhaupt nicht bestritten werden, daß die Bewältigung des NS-Erbes der deutschen Nachkriegsgesellschaft notwendig und ihr Ausgangspunkt – zumindest überwiegend – ein moralischer war.

Fakt ist aber auch, daß diese Bewältigung schnell instrumentalisiert wurde: Sowohl von der Stasi, als auch von zahlreichen westdeutschen Intellektuellen als Grundlage einer eiskalten Karriereplanung. Nur die wenigsten von ihnen haben die moralische und intellektuelle Kraft gefunden, diesen politischen, ideologischen und moralischen Morast mit Härte gegen sich selbst zu analysieren.

Aufarbeitung der NS-Zeit soll die Priorität behalten

Knabe meinte in einem Zeitungsartikel, die inbrünstige Beschäftigung mit dem Dritten Reich sei eine Ersatzhandlung, um einer kritischen Selbstreflexion über den eigenen Umgang mit dem zweiten totalitären System zu entgehen. Das ist eine freundliche Deutung, die vorhandene Scham voraussetzt. Zum Teil mag sie zutreffen.

Für die anhaltenden antifaschistischen Exorzitien aber gibt es noch einen viel praktischeren Grund: Die Furcht, als Stasi-Kollaborateur erwischt zu werden, und Ansehen, Pfründe, warme Sessel zu verlieren. Solange das Geschrei über den braunen Sumpf Ausschließlichkeit beanspruchen und alles andere übertönen kann, sind die Stimmen, die auf den roten Sumpf verweisen, nicht zu hören.

 

Hubertus Knabe: West-Arbeit des MfS. Das Zusammenspiel von "Aufklärung und Abwehr". Christian Links Verlag, Berlin 1999, 598 Seiten, 48 Mark

Hubertus Knabe: Die unterwanderte Republik, Propyläen, Berlin 1999, 590 Seiten, 49,90Mark


 
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