© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/99 03. Dezember 1999


Frankreich: Die korsische Frage ist bezeichnend für die Krise des Staates
Ein Spiel mit dem Feuer
Jean-Jacques Mourreau

Korsika ist und bleibt die Nummer eins auf der politischen Tagesordnung Frankreichs – ein blutiger film noir, in dem sich die Irrwege des brüchig gewordenen Zentralstaates zeigen: Am späten Vormittag des vergangenen Donnerstags zerstörten zwei Bombenanschläge in der korsischen Hauptstadt Ajaccio öffentliche Gebäude und verwundeten mehrere Personen. Am selben Tag wurde in Paris der militante Nationalist Charles Santoni für den Mord an einem Offizier der RAID-Spezialeinheit während eines Feuergefechtes bei Santonis Verhaftung in der Nähe von Ajaccio im April 1996 zu 28 Jahren Haft verurteilt. Am Freitag und Samstag demonstrierten mehrere tausend Menschen in den Straßen von Ajaccio gegen die Gewalt. Jacques Chirac rief aus London dazu auf, "mit Festigkeit gegen die Spirale der Unvernunft zu handeln". Vor Ort kündigte der Präfekt Jean-Pierre Lacroix sofort die Reaktivierung des "Plan Vigipirate" an, der zur Bekämpfung des islamistischen Terrorrismus ins Leben gerufen worden war. Der Präsident der korsischen Nationalversammlung, José Rossi, zeigte sich seinerseits bestürzt über "den immensen Bruch, der sich zwischen der französischen Öffentlichkeit und den Inselbewohnern aufgetan hat". Er fügte hinzu: "Es ist dringend notwendig, das Klima des gegenseitigen Vertrauens zwischen Paris und Korsika wiederherzustellen."

Von dem Zusammenhang, der zunächst zwischen der Verurteilung Charles Santonis und den Anschlägen in Ajaccio gesehen wurde, war später nicht mehr die Rede. Dem Beispiel des Innenministers Jean-Pierre Chevènement folgend, haben die Kommentatoren statt dessen die "Sackgasse" betont, in der sich bestimmte Nationalisten verbarrikadiert hätten. Mit anderen Worten, statt sich um eine politische Lösung zu bemühen, die den Forderungen der Korsen gerecht wird, wird wieder einmal nach Sündenböcken gesucht.

Wenngleich es einerseits wahr ist, daß auf Korsika Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit existiert, so muß man sich andererseits vor Augen führen, daß der französische Staat kein Recht hat, hierfür die Korsen verantwortlich zu machen. Seit seiner Machtergreifung auf der "Insel der Schönheit" hat sich der Zentralstaat ständig der Gewalt bedient, um die Inselbewohner zur Beachtung seiner Gesetze zu zwingen. Die "Befriedung" Korsikas hat eine lange und blutige Geschichte. Die Brandschatzung von Strandrestaurants, die zur Befragung und Inhaftierung des Präfekten Bernard Bonnet führte, ist nur eine der unzähligen Episoden auf einer langen Liste von Anschlägen, die im Namen der Staatsräson verübt wurden.

Frankreich verfügt über erfahrene Henkersknechte

Die Ausübung der "Staatsgewalt" beschränkt sich keineswegs auf Korsika. Das Elsaß, die Bretagne und das Baskenland haben sie ebenfalls erfahren. Man denke etwa an die Anschläge auf baskische Aktivisten, die nach Frankreich geflüchtet sind. Der französische Staat verfügt über langjährige Erfahrung mit Sonderpolizeien und Henkersknechten wie dem gaullistischen Ordnungsdienst SAC (Ziviler Einsatzdienst), dem das Gemetzel von Auriol Anfang der achtziger Jahre zur Last gelegt wird. Noch heute wird die Akte über das Verschwinden des marokkanischen Widerständlers Ben Barka während der Amtszeit de Gaulles unter Verschluß gehalten.

Die Ermordung des Präfekten Erignac (Februar 1998) und die Brandschatzung der Strandrestaurants (Mai 1999) führten zu der Bildung zweier parlamentarischer Ausschüsse, der eine im Senat, der andere in der Nationalversammlung. Die Mitte November veröffentlichten Ergebnisse ihrer Ermittlungen belasten den Staat. Sie verweisen auf das Versagen der Sicherheitskräfte auf Korsika und heben dabei einerseits die Rivalitäten zwischen Justizbeamten, Polizisten und Gendarmen und andererseits die schwachen Resultate hervor, die trotz der vielfältigen Maßnahmen erzielt wurden. Beide Berichte werfen die Frage auf, wie Polizeigeheimnisse in die Hände Yvan Colonnas fallen konnten, den die Justizbehörden für den mutmaßlichen Mörder Erignacs halten, und stellen damit den Nachrichtendienst mit seinen merkwürdigen Methoden unter Verdacht.

Den offiziellen Stellen und der Presse zufolge ist die Gewalt ein rein korsisches Problem. Die Gewaltausbrüche, unter denen die Städte des französischen Festlandes zu leiden haben, geraten dabei in Vergessenheit. Am Rande der Großstädte – in Paris, Lyon, Marseille, Lille, Rennes, Mülhausen oder Straßburg – vervielfachen sich die sogenannten "gesetzlosen" Zonen. Die elsässische Hauptstadt Straßburg erinnert sich mit Schrecken an die brennenden Autos des letzten Jahreswechsels. Bis zum nächsten bleiben nur noch wenige Wochen, wie die Tageszeitung Le Monde bemerkt, während die Autoritäten Beschwichtigungen und Rauchschleier ausbreiten. Jean-Pierre Chevènement, der immer vorne mitmischt, wenn es darum geht, energisch das Kinn vorzustrecken und über "das Gesetz der Republik" zu dozieren, ist nicht einmal in der Lage, in der unmittelbaren Nachbarschaft seines Amtssitzes für Ordnung zu sorgen.

Die Anschläge in Ajaccio haben dazu geführt, daß sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von der Kette von Skandalen ablenken ließ, die sowohl die politische Klasse als auch das Ansehen des Staates beschmutzt haben. Der bis dato letzte – um die MNEF (nationale studentische Krankenversicherung), die von trotzkistischen Genossen Lionel Jospins kontrolliert wird, während dieser bestreitet, jemals etwas mit ihnen zu tun gehabt zu haben – droht an der Unschuld zu kratzen, die die Regierung zur Schau stellt. Die Untersuchungskommission hat die kriminellen Machenschaften verschiedener hoher Funktionäre dieser in einen sozialistischen Machtapparat verwandelten Krankenversicherung ans Tageslicht gebracht. Die Vorwürfe erwiesen sich als schwerwiegend genug, um den Rücktritt des allmächtigen Wirtschafts- und Finanzministers Dominique Strauss-Kahn nach sich zu ziehen.

Das System verfügt über eine ausgesprochene Fähigkeit zum Selbstschutz. Es bedient sich virtuos der Ablenkung oder des Schweigens. So schaffte es zum Beispiel die jüngste Studie über internationale Korruption, bei der Frankreich auf den vordersten Rängen mit dabei ist, nicht einmal auf die Titelseite der Zeitungen. Die Enthüllungen über die sowjetische Infiltration westlicher Staaten hat in Großbritannien und Italien viel Aufsehen erregt. In Frankreich war davon nichts zu spüren. Auch von der Affäre um die Milliarden des Konzerns Elf-Aquitaine spricht niemand mehr. Bernard Tapie ist wieder aufgetaucht. Von den Medien umjubelt und als Held gefeiert, hat er eine neue Laufbahn in den Wellen und an den Stränden eingeschlagen. Und was den Präfekten Bonnet angeht, so plant er nach seiner Haftentlassung ein Buch zu veröffentlichen, das ihn entlastet und zum Angriff auf diejenigen übergeht, die ihn hinter Gitter brachten. In Frankreich scheint jeder Skandal in einem Buch zu münden. Auf diese Weise kann man sich an jenen rächen, die einen an den Pranger gestellt haben. Je nach Bedarf werden ein oder zwei Köpfe dem Volk zum Fraß vorgeworfen. Jean Tiberi, Bürgermeister von Paris, der das Unglück hat, Korse zu sein, weiß davon ein Lied zu singen.

Der Staat mißachtet nationale Unterschiede

Mögen rechte und linke Spitzenpolitiker noch so oft die Tugenden des Rechtsstaates beschwören – das System selbst steht der Transparenz im Wege. Das Schicksal der Berichte der beiden parlamentarischen Ausschüsse zum Thema Korsika ist hier bezeichnend. Sie haben einen Sturm von Polemiken hervorgerufen, begleitet von den üblichen Richtigstellungen – alles nur darauf angelegt, die grundsätzlichen Fragen im Keim zu ersticken. Genauso bemerkenswert war die Reaktion der antiterroristischen Gerichtsbarkeit, die in den Berichten ebenfalls belastet wird. Die Richter wandten sich daraufhin an Jacques Chirac in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Obersten Magistralrats, um gegen diese Einmischung der Legislative in Angelegenheiten der Judikative zu protestieren.

In der korsischen Frage hat die Zentralregierung sich seit dem Feuergefecht von Aléria 1975 und der Gründung des FNLC (Nationale Befreiungsfront Korsikas) 1976 festgefahren. Sie bleibt ihrer inneren Logik verhaftet, lockt mal mit Zuckerbrot und droht mal mit der Peitsche, schwankt zwischen Unterdrückung und geheimen Verhandlungen hin und her. Seit langem schon macht sie sich die Klanstruktur zunutze, spielt eine Faktion gegen die andere aus, macht Versprechen, die sie niemals hält, und spielt dabei unaufhörlich mit dem Feuer. Keine ihrer Maßnahmen kann erfolgreich sein, solange sie darauf besteht, geographische und nationale Unterschiede zu mißachten. Korsika ist näher an Sardinien und den italienischen Küstenregionen gelegen als an Marseille. Die Bewohner sind ein Inselvolk, dessen Gesellschaftsgefüge sich nur schwer in die Vorstellungen Pariser Bürokraten zwängen läßt. Die korsische Frage läßt sich nur lösen, indem man sie zu einer nationalen macht. Der Fall Korsika ist aufschlußreich. Allen Anzeichen nach befindet sich der französische Staat in einer tiefen Krise. Die Untersuchung und Verhaftung des Präfekten Bonnet haben die Stärke des Erdbebens und das Ausmaß des Problems nur angedeutet. Kein Mensch weiß, wie weit der Verfall schon fortgeschritten ist oder gar, zu welchen Irrwegen er noch führen wird. Die Unfähigkeit des französischen Staates, sich den heutigen Gegebenheiten anzupassen, schreit zum Himmel. Um seine Misere zu beschreiben, fällt einem nur noch Hamlets Klage ein: "Es ist etwas faul im Staate Dänemark ..."

 

Jean-Jacques Mourreau, Journalist und Publizist, arbeitet für verschiedene Zeitschriften. Er ist im Elsaß geboren und Spezialist für Fragen nationaler Identität.


 
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